Das Böse lautert an düsteren Orten

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 29.09.2005
In strömenden Regennächten erinnert sich ein gestrandeter Schiffer an geheimnisvolle Ereignisse und dunkle Begebenheiten seines Lebens. An vielen Orten der Welt hat er beobachtet, wie sich die Gesellschaft der "Dunklen" materialisiert. Diese phantastisch anmutenden Episoden erzählt Gert Loschütz in lakonisch-realistischem Ton und lässt so eine packende Spannung entstehen.
Wer am 17. Oktober, dem Vorabend der Frankfurter Buchmesse, den erstmals vergebenen Deutschen Buchpreis davontragen wird, weiß man noch nicht. Die Gewinner der Endrunde aber kennen wir schon, die sechs Finalisten, von denen einer das Rennen machen wird. Gert Loschütz gehört zu ihnen mit seinem jüngsten Roman: "Dunkle Gesellschaft." Was im Titel wie eine Nachahmung des Raunens der 50er Jahre anklingt, bedeutungsvoll und symbolistisch aufgeladen, wird durch eine höchst ungewöhnliche, elegante Genrebezeichnung konterkariert: Roman in 10 Regennächten.

Schon bevor man eine Zeile gelesen hat, schlägt der Autor also einen zwischen Traum und Wachen, zwischen Moll und Dur oszillierenden Ton an und erweckt somit die Erwartung auf die Quadratur des Kreises, ein metaphernschwangeres und doch gleichermaßen realistisches Erzählen.

Während zehn Nächten erinnert sich der Binnenschiffer Thomas, der in der niedersächsischen Provinz gestrandet ist, an seltsame, teils unheimliche Ereignisse seines Lebens. Der unaufhaltsam fallende Regen ist es, Wind und Wetter, Sturm oder Stille, Gerüche und Geräusche, die den Reigen in Gang setzen. Fernab von Flüssen und Kanälen treibt ihn die Sehnsucht nach seinem Element in den sintflutartigen Dauerregen hinaus. Dort lauert die Gesellschaft der "Dunklen", eine immer neue Materialisierung des Bösen. Es sind phantastisch anmutende Ereignisse, in denen – ein immer wiederkehrendes Motiv – Menschen plötzlich aus ihrer Umgebung verschwinden, um an einem anderen Ort wieder aufzutauchen.

Der schwarze Daniel zum Beispiel, der später Marineminister seines ostafrikanischen Heimatlandes werden soll, wird eines Tages von der Schule entfernt und später auf der Fähre nach Ostende wiedergesehen – aber vielleicht war er es gar nicht, und stattdessen hat ihn ein Voodoo-Zauber hinweggeschafft und seinen Lehrer ums Leben gebracht. Oder ein Schlafwagenschaffner, der sich damit brüstet, in seiner Jugend beinahe Hitler getötet zu haben, wird in Rom im gleißenden Mittagslicht von zwei schwarz gekleideten Unbekannten entführt, auf einem Berliner Kahn wird eine Frau ausgepeitscht, aber vielleicht täuschte sich der Augenzeuge auch; ein symbiotisch lebendes Ehepaar bricht aus seiner "kaum zu bewältigenden Paarlaufübung" aus, legt Feuer an sein Hab und Gut, verwischt alle Spuren und wird danach nie mehr gesehen.

Die metaphorische Verschlüsselung ist überdeutlich. Aber trotz dieser durchaus kalkulierten Symbolik spielt der Roman nicht etwa in der Grauzone zwischen Phantasie und Realität, in keinem literarischen Nebelland. Loschütz bindet ihn an real existierende Orte, die er präzise beschreibt, ob London, Wien, Berlin, New York. Dort lässt er seinen Helden, sich erinnernd, immer wieder an Land gehen, und verschiedene düstere Abenteuer bestehen, aber auch stets auf rätselhafte Weise scheiternde Liebesgeschichten durchleben. Nach und nach fügen sich die zehn Episoden zu einer Art Biographie. Allesamt um ein dunkles Geheimnis kreisend, sind die raffiniert ineinander verflochtenen Erzählungen in nüchtern-lakonischem Ton geschrieben, detailgenau, voll sprachlicher Dichte.

Immer wieder sind Bilder von poetischem Glanz in den beklemmend rätselhaften Text eingestreut: die Mechanik eines Digital-Weckers vollzieht sich "wie ein in die Uhr eingebautes Scharfrichterschwert, das, klack, Minute um Minute vom Leben abteilt"; "ein kreisrunder See" liegt da "wie ein aufgeschlagenes, in den Himmel blickendes Auge". Den bewusst eingesetzten Motiven wie dem des Doppelgängers aus der literarischen Tradition von der Romantik bis zur Postmoderne gibt der Autor einen ganz eigenen melancholisch schwebenden Ton.

Geradezu meisterhaft bedient sich Loschütz eines Kunstgriffs, von dem nicht nur die klassische Kriminalliteratur lebt. Indem entscheidende Motive nur angedeutet oder ganz ausgespart werden, entsteht ein Klima von Bedrohung. Es ist diese eigentümliche Spannung, ein unwiderstehlicher Sog, der den Roman vorantreibt – und den Leser in seinen Bann zieht.

Gert Loschütz, der nicht zu den Vielschreibern im Lande gehört – in mehr als 30 Jahren hat er neben zahlreichen Hörspielen und einigen Theaterstücken gerade mal fünf Bücher veröffentlicht – befindet sich mit seinem zweiten Roman durchaus zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Wenn laut Jury-Sprecher Bodo Kirchhoff diese das ganze Risiko des Schreibens spiegele, aber auch die Chancen auf ein breites Publikum, so trifft er damit die "Dunkle Gesellschaft" im Kern, diesen Roman mit seinem artifiziellen, wohlkalkulierten Spiel um Erotik und Gewalt.


Gert Loschütz: Dunkle Gesellschaft. Roman in 10 Regennächten
Frankfurter Verlagsanstalt 2005, 220 Seiten, 19,90 Euro