Das Berliner Literaturfestival "Queer*East"

Queer-Literatur als universelles Menschenerbe

Der Buchautor, Murathan Mungan, bei der Buchpräsentation "Tschador-Palast des Osten", aufgenommen am 15.10.2008 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main.
Der türkische Buchautor Murathan Mungan eröffnete das Queer-Literaturfestival. © dpa / picture alliance
Von Tobias Wenzel · 03.08.2018
Was bedeutet es heute, in Russland, der Ukraine oder Weißrussland Queer-Literatur zu schreiben? Diese Frage bestimmte das dreitägige Festival "Queer*East", das gerade eben zu Ende gegangen ist. Tobias Wenzel war vor Ort und hat Antworten.
Die menschliche Sexualität sei eine komplexe Angelegenheit, sowohl Vulkan als auch Eisberg, sagte Murathan Mungan, nach eigener Aussage der erste offen schwul lebende Schriftsteller der Türkei, in seiner Eröffnungsrede vor rund einhundert Festivalteilnehmern und –besuchern im Literarischen Colloquium Berlin. Es gebe auch unter den Schriftstellern nicht nur Heterosexuelle, Lesbische, Schwule, Transsexuelle und Intersexuelle, sondern zum Beispiel auch "latent Homosexuelle".

Zwischen den Zeilen lesen

Deshalb empfehle es sich, in der Literatur zwischen den Zeilen zu lesen, um herauszufinden, was in der Tiefe des Textes verborgen sei. So kennt die türkische Sprache anders als die deutsche keine geschlechtsspezifischen Personalpronomen wie "sie" und "er". Da weiß man nicht, ob von einem Mann oder einer Frau die Rede ist. Deshalb sei die türkische Queer-Literatur oft zur Geheimliteratur geworden. Mungan selbst habe in einer Erzählung erst am Schluss verraten, dass da ein Mann einen Mann liebt. Einige Leser hätten sich betrogen gefühlt.
Wenn Homosexuelle in Georgien Hand in Hand spazieren gehen, können sie zusammengeschlagen werden, erzählte Davit Gabunia. Wer in Weißrussland einen literarischen Text über Homosexualität schreibt, gilt gleich als westlicher Agent, erfuhr man von Uladislaŭ Ivanou. In der Ukraine gibt es gleich Drohbriefe, wie Natalka Sniadanko aus eigener Erfahrung wusste.

Skandale gut und schlecht für die Verkaufszahlen

Ukrainische Verlage würden Skandale allerdings als verkaufsfördernd suchen. Russische Verlage fürchten dagegen Skandale, erzählte Sergej Khasov-Kassia. Ein großer Verlag sagte ihm zu, seinen autobiografischen Coming-Out-Roman zu veröffentlichen, ließ sich dann aber plötzlich verleugnen. So erschien sein Buch – überhaupt ein Dilemma vieler Queer-Autoren – in einem Nischenverlag. Besonders der russische Staat betrachte Nicht-Heterosexuelle als Gegner. Und wer wolle sich schon mit dem Staat anlegen!
Wie in den 90ern muss er nun den Russen wieder erklären, dass Homosexualität keine Krankheit ist, berichtete Khasov-Kassia. Die Unwissenheit betrifft auch die Terminologie, betonte der bulgarische Autor Nikolaj Bojkov: Viele seiner Landsleute verstünden gar nicht Worte wie "queer" und "gender". So beschimpfen einige Bulgaren andere als "gender", weil sie meinen, es handle sich um ein abnormes drittes Geschlecht.

Aufmerksamkeit durch Provokation

Aufklärung ist also angebracht. Jeder Autor – das hat das Festival eindrucksvoll gezeigt – hat da seine eigene Strategie entwickelt. Der Serbe Bojan Krivokapić versucht, das Queer-Thema immer nur als eines von vielen in seinen Texten zu platzieren, so dass es als normal erscheint. Der Rumäne Adrian Schiop setzt dagegen auf Aufmerksamkeit durch Provokation. So freute er sich, als die Vorführung eines Films zu einem seiner Bücher bei der Premiere sabotiert wurde. Der polnische Autor Jacek Dehnel spart in seinen Büchern Queer-Themen meistens aus, ist dafür aber bei Facebook ein Aktivist.
In ihrem Land Ungarn würden öffentliche Gelder für Veranstaltungen mit Queer-Hintergrund gestrichen. Da werde man zwangsläufig zum Aktivisten, erzählte die Schriftstellerin Zsófia Bán. Wer nun meinte, in Deutschland gebe es ja zum Glück keine Vorbehalte mehr gegen Queer-Literatur, der wurde am letzten Tag des Festivals eines Besseren belehrt.

Auch in Deutschland Vorbehalte gegen Queer-Literatur

Karen-Susan Fessel, die oft in deutsche Schulen eingeladen wird, erzählte, wie Lehrer sie baten, nicht aus dem Buch zu lesen, in dem ein lesbisches Paar vorkomme. Begründung: Da könnten sich die Eltern beschweren. Ulrich Hub, in dessen Buch "Ein Känguru wie du" ein schwules Känguru die Hauptfigur ist, berichtete, wie Schulklassen im Theater die dramatische Fassung anschauen, aber just an dem Tag viele Kinder fehlen, weil sie laut Eltern ganz plötzlich krank geworden sind. Eltern und Lehrer würden ihre Kinder unterschätzen.
Während die Schriftsteller auf dem Podium kein Blatt vor den Mund nahmen, wunderte man sich schon über den Eröffnungsredner Murathan Mungan. Zwar widmete er seine Rede einem ermordeten schwulen Türken. Aber sonst ging er mit keinem Wort auf die aktuelle Situation der Queer-Gemeinschaft in der Türkei unter Erdoğan ein. Stattdessen gab er aber einen hochinteressanten geschichtlichen Abriss der Homosexualität. Da lernte man, dass sich Schwule im Istanbul der 40er-Jahre durch rote Socken zu erkennen gaben.
Schließlich betonte Mungan, die Queer-Literatur sei für alle da. Sie gehöre zum "universellen Menschenerbe". Gute Literatur richte sich unabhängig von Sprache, Religion, Hautfarbe, Geschlecht und eben sexuellen Neigungen an jedes Ohr, das offen für Geschichten sei.
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