"Das Abenteuer Leben muss erklärt werden"

Ulrich Fegeler im Gespräch mit Holger Hettinger |
Der Verbandsprecher der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Ulrich Fegeler, hat an Mütter appelliert, mehr mit ihren Kindern zu reden und zu lesen. Sprache sei Voraussetzung dafür, dass die Kinder auch später Lesen lernten, sagte der Kinderarzt. Anreize soll das Modellprojekt "Lesestart" bieten, das nun bundesweit gestartet ist.
Holger Hettinger: "Lesestart" ist ein Förderprojekt, das Kleinkinder in die Welt der Literatur führen soll. Gerade mal ein Jahr sind die Kinder alt, wenn sie eine sogenannte Büchertasche bekommen. Darin: Ein Lesebuch, ein Elternratgeber und eine Liste mit Buchempfehlungen. Das Besondere: Der Bücherbote oder Bücheranimateur, oder wie immer man das nennen möchte, ist der Kinderarzt. Der übergibt die Büchertasche bei der sogenannten U6-Untersuchung. Das ist eine Vorsorgeuntersuchung, die routinemäßig bei Einjährigen durchgeführt wird.

"Lesestart" gab es als Modellprojekt in Sachsen, seit 2008 ist es nun bundesweit ausgedehnt. Es ist die größte Lesefördermaßnahme in Deutschland. Über den Sinn und den Nutzen dieser sehr, sehr frühen Förderung spreche ich nun mit dem Kinderarzt Doktor Ulrich Fegeler. Er ist Sprecher des Berufsverbandes der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Schönen guten Tag, Herr Fegeler.

Ulrich Fegeler: Guten Tag.

Hettinger: Herr Fegeler, erzählen Sie doch einfach mal ein bisschen aus der pädiatrischen Praxis. Wie reagieren die Eltern, wenn der Kinderarzt ein Leseset für ihren gerade mal einjährigen Nachwuchs überreicht?

Fegeler: Es ist klar, wenn ich sage: "Das ist, damit Ihr Kind später mal besser lesen kann", dann würde das wahrscheinlich auf relatives Unverständnis stoßen, aber dieses Leseset ist ja eigentlich nichts weiter als ein Anreiz für die Mutter, mit dem Kind zu kommunizieren. Das heißt, das Bilderbuch ist sozusagen etwas, was dem Kind die Welt erklärt und das passiert nicht nur in dem Bilderbuch, also in Form von Bildern, sondern auch noch in der Sprache, die die Mutter verwendet, um dem Kind zu erklären, was es dort sieht. Und das...

Hettinger: Also, dieses Buch, das ist ein Bilderbuch, jetzt nicht "Joseph und seine Brüder" oder so was?

Fegeler: Nein, das ist ein Bilderbuch. Das Kind kann dort auch so ein paar Klappen aufmachen. Vielleicht kennen Sie solche Bilderbücher, die sind für die Kleinen sehr spannend, weil es hinter diesen Klappen immer wieder neue Bilder zu entdecken gilt und die Mutter erzählt an dem Bilderbuch, was das Kind dort sieht. Das Kind bekommt also sozusagen eine sprachliche Kommunikation. Und das, was eben diese Bilderbücher vermitteln, ist in der Hauptsache eigentlich Sprache.

Hettinger: Ich habe mich gewundert. Macht das nicht im Prinzip jede Mutter mit ihrem Kind? Ist das so außergewöhnlich, dass man das in so einem groß angelegten Projekt befördern muss?

Fegeler: Wenn es so wäre, wären wir glücklich, aber das ist leider Gottes eben nicht mehr der Fall. Und wir haben ja das große Problem in Deutschland, dass immer mehr Familien immer weniger eigentlich mit ihren Kindern tun, immer weniger sozusagen die Kinder anregen und immer mehr dem Fernseher überlassen. Es ist überhaupt keine Seltenheit, wenn wir heute Familien sehen, die bereits ihre noch Säuglinge schon vor den Fernseher legen und dann ganz glücklich uns als Kinderärzten sagen: "Mein Gott, der Kleine guckt aber so begeistert hin und ist dann immer auch ganz ruhig."

Genau das ist aber falsch. Der Fernseher vermittelt keine Sprache. Sprache vermittelt die Mutter und das vermittelt sie dadurch, dass sie das Kind anschaut beziehungsweise mit dem Kind in einen sprachlichen, verbalen Kontext tritt. Das Kinderbuch ist dazu ein ganz geeignetes Medium. Deswegen sind wir so dafür, weil wir über das Kinderbuch Sprachförderung betreiben und die Sprache ist Voraussetzung dafür, dass die Kinder auch später Lesen lernen. Denn nur wenn die Sprache richtig erlernt wird, dann hat das Kind auch hinterher keine Schwierigkeit, Lesen zu lernen.

Hettinger: Und dieses Alter, ein Jahr, ist das genau der richtige Zeitpunkt, um diese Förderung so durchzuführen?

Fegeler: Es ist fast schon zu spät. Also, ich würde sagen, es ist der späteste Zeitpunkt. Ich würde viel eher beginnen. Denken Sie daran, in Amerika und in Kanada gibt es eine Aktion, die heißt "Read to me", das heißt übersetzt: "Lies mir vor". Und da ist es bereits die Hebamme, die in die Wöchnerinnen-Abteilungen der Kinderkliniken beziehungsweise Geburtskliniken geht und die dort schon mit einem kleinen Beutel, da sind übrigens noch viel mehr Bücher drin als hier in Deutschland, die Mutter dazu animiert, sich so früh wie möglich mit ihrem Kind zu beschäftigen.

Am Anfang sind es aber in der Tat nicht unbedingt die Bilderbücher, das ist so etwa ab einem halben Jahr sinnvoll, sondern am Anfang ist es simpel das Kinderliederbuch. Das heißt, die Mutter soll einfach lernen, wieder ein paar Kinderlieder mit ihrem Kind zu singen. Denn über die Lieder, über die Liedtexte, über die rhythmische Vermittlung der Sprache geschieht ebenfalls eine ganz frühe Sprachinduktion.

Hettinger: Das klingt nach, ja, im Prinzip im Zeitalter von iPod und sonstigen Hilfsmitteln, mit denen man sich der Musik nähern kann, fast schon antiquiert. Ist das immer noch so wichtig?

Fegeler: Ja, es ist wichtiger denn je, denn unsere ganze genetische Ausstattung, die wir hatten und die wir haben, die ist nicht an das iPod adaptiert, sondern an ganz einfache grundsätzliche Strukturen und die müssen wir auch bedienen, um das zu entwickeln, was uns ja über die letzten Jahrhunderte, Jahrtausende zu dem gemacht hat, was wir heute sind, im Prinzip ein intelligenter Mensch. Aber unsere genetische Grundausstattung ist einfach und das müssen wir bedienen.

Also, Kommunikation, Gesicht zu Gesicht, verbale Interaktion mit der Mutter, das ist entscheidend, daran lernt das Kind sozusagen Sprechen, es lernt die Wortbedeutungen über die mimische Kommentierung der Mutter, die Rhythmisierung der Sprache zum Beispiel in diesen alten Kinderreimen oder in den Kinderliedern ist ganz hervorragend. Und wenn das Kind dann mal sprechen kann und gut Sprechen gelernt hat, wenn es die Welt einigermaßen begriffen hat, dann kann hinterher auch der Computer und von mir aus auch das iPod eine große Rolle spielen. Aber die Grundentwicklung, die ist an einfache Strukturen gekoppelt.

Hettinger: Wenn ich das richtig verstanden habe, ist es auch ein Appell an die Eltern, an die Mutter, an den Vater: "Beschäftige dich mit deinem Kind. Gib ihm entsprechende Förderung, gib ihm entsprechende Reize." Ist die Bereitschaft, das zu tun, abhängig vom Bildungsmilieu?

Fegeler: Ja, leider Gottes. Sie haben aber völlig Recht, im Prinzip ist es genau dieser Appell. Das heißt, die Beschäftigung mit dem Kind, die Auseinandersetzung, das Erklären der Welt zum Beispiel aus dem Kinderbuch, setzt eben Interaktion, setzt Beschäftigung mit dem Kind voraus. Und genau das ist aber das, was wir heute leider Gottes zunehmend vermissen. Es gibt eine amerikanische Statistik, die besagt, dass kumulativ bis zu einem Alter von sechs Jahren bei Kindern der sogenannten sozialen Unterschicht maximal etwa 30 bis 40 Stunden vorgelesen wird, hingegen bei einem Kind der Mittelschicht oder der gebildeteren Schichten über 5000 Stunden.

Da sehen Sie den Riesenunterschied. Das ist nichts anderes als Beschäftigungszeit. Und genau das wollen wir im Prinzip wieder aktivieren. Das heißt, nicht der Fernseher ist das, wo das Leben erklärt wird und wo die Kinder von profitieren können, vor allen Dingen in der frühkindlichen und vorschulischen Entwicklung, sondern es ist die Beschäftigung mit dem Kind, das Abenteuer Leben sozusagen muss erklärt werden über die Eltern, es muss unmittelbar erlebt werden und nicht über virtuelle Welten hinter einer Mattscheibe.

Hettinger: Eltern, die sich nicht mit ihrem Kind beschäftigen und hier keine Förderung praktizieren, die sind so auf der einen Seite der Skala. Auf der anderen ist das, was man vielleicht auch schon mal gesehen hat, mit Grausen gesehen hat, mir läuft es immer kalt den Rücken runter, wenn mich jemand anruft und nach einem Cellolehrer für das zweijährige Kind fragt, nämlich dieses Phänomen der Überförderung, dass man zu viel zu früh mit dem Kind will und ihm einfach überhaupt nicht die Chance gibt, ein Kleinkind zu sein letztlich. Ist das nicht schwierig, hier die entsprechende Balance zu wahren?

Fegeler: Also, Sie haben vollkommen Recht. Wenn es die Ausmaße erreicht, die Sie gerade erwähnt haben, ich habe das Gott sei Dank noch nicht erlebt, aber es ist natürlich klar, frühkindliche Bildung heißt nicht die Einführung einer Zweitsprache ab dem zweiten Geburtstag, sondern frühkindliche Entwicklungsförderung heißt eigentlich nur, sich ganz normal mit dem Kind zu beschäftigen, ganz normal das Abenteuer Leben zu gestalten, das Kind darin einzuführen und dazu bedarf es überhaupt keiner überkandidelten Programme.

Es bedarf eigentlich nur einer Sache und das ist Beschäftigung mit dem Kind. Sie haben das vorhin schon völlig richtig erwähnt. Alles andere, was darüber hinausgeht, das ist teilweise, ich würde mal sagen, Luxusförderung, die das Kind nicht unbedingt braucht. Wir sind froh, wenn die Kinder zum Schuleingangszeitpunkt gut sprechen, sich differenziert ausdrücken können, wenn sie ein gutes Sozialverhalten an den Tag legen und motorisch gut ausgebildet sind, dass sie Freude haben am Lernen und nicht übergewichtig sind. Das ist das, was wir wollen. Das setzt aber keine besonderen Kenntnisse der Mutter voraus oder der Eltern, sondern es setzt einfach nur eine ganz normale, aber eben auch interessierte Beschäftigung mit den Kindern voraus.

Und wir brauchen hier einfach eben Institutionen, die sowohl das Kind fördern, als aber auch die Eltern dabei herannehmen und es gemeinsam sozusagen mit dem Kind schaffen und den Eltern schaffen, dann das Kind vernünftig, eben vorschulische Entwicklung zu fördern.

Hettinger: Dieses Projekt "Lesestart" ist noch relativ frisch. Im Juni 2008 ist es in die bundesweite Phase gegangen. Haben Sie dennoch bereits erste Erfahrungen, erste Rückmeldungen über diese Fördermaßnahme?

Fegeler: Also, eine Rückmeldung habe ich noch nicht, aber ich kann Ihnen sagen, dass die Eltern das sehr positiv aufgreifen. Ich mache es natürlich grundsätzlich so, dass ich den Beutel auspacke und den Eltern zeige, was da drin ist und dann gucken wir uns schon mal das Bilderbuch so an und machen die Klappen auf mit den Kindern. Das finden die im Prinzip schon ganz toll und ich denke, für manche Eltern ist das ein ganz guter Einstieg. Es zeigt denen mal, was man da machen kann. Ich finde es auch nicht schlecht, dass man gleich eine Liste dazu gelegt hat, was es noch an tollen Bilderbüchern gibt. Wir bemühen uns ja auch, in den Praxen das entsprechend auszulegen. Für manche Mütter ist das wirklich ein erster Kontakt eben mit diesen Möglichkeiten.

Hettinger: Der Kinderart Ulrich Fegeler, Sprecher des Berufsverbands der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin über die private Inititiative "Lesestart", getragen von der Stiftung Lesen. Dieses Projekt ist auf die Dauer von zwei Jahren begrenzt, daher fordern die Initiatoren eine staatliche Anschlussförderung.