"Das Abenteuer Afghanistan muss beendet werden"

Volker Rühe im Gespräch mit Michael Groth und Ulrich Ziegler |
Der frühere Bundesverteidigungsminister Volker Rühe hat eine politische Lösung des Afghanistan-Konfliktes gefordert. Es sei allerdings falsch zu glauben, "man könne hier einen afghanischen Zentralstaat demokratisch strukturieren".
Deutschlandradio Kultur: Herr Rühe, in der Debatte um das Aussetzen der Wehrpflicht fällt immer wieder der Begriff einer "freiwilligen Wehrpflicht". Wir verstehen das nicht. Können Sie das erklären?

Volker Rühe: Ich finde den Begriff auch nicht gut, Herr Groth, wie ich überhaupt dagegen bin, dass man versucht, sprachlich was zu verschleiern. Und in diesem Fall ist es ja so, dass man beabsichtigt, Zeitsoldaten zu schaffen, aber in einem kürzeren Zeitraum. Nur, sie können auch im Auslandseinsätzen eingesetzt werden, was Wehrpflichtige natürlich bisher nicht gemacht haben. Und deswegen finde ich das eher gefährlich, diesen Begriff. Es muss jeder wissen, wenn er diesen so genannten "freiwilligen Wehrdienst" macht, dass er in Afghanistan landen kann.

Deutschlandradio Kultur: Also, im Grunde heißt das dann aber auch, dass die Wehrpflicht, so wie wir sie früher verstanden haben, eigentlich ausgedient hat?

Volker Rühe: Das ist jetzt der zweite Punkt, wo ich glaube, dass man ganz klar sein muss, weil alle sagen, es wird ja "nur" ausgesetzt. Sie bleibt im Grundgesetz. Das bedeutet die Abschaffung der Wehrpflicht. Ich frage immer ganz gerne, weil auch Journalisten sich zu wenig informieren: Was haben die Amerikaner eigentlich nach Vietnam gemacht? Haben sie die Wehrpflicht abgeschafft? Oder haben sie sie ausgesetzt?

Deutschlandradio Kultur: Kommt es darauf an?

Volker Rühe: Sie haben sie ausgesetzt, aber faktisch abgeschafft, wie jeder sehen kann. Das heißt: Wenn Sie in einer Krise versuchen würden, die Wehrpflicht wieder in Gang zu setzen, dann wäre das Eskalation fördern, wie die Mobilisierung vor dem Ersten Weltkrieg, und im Übrigen innenpolitisch auch nicht zu machen. Und deswegen sollte man klar sagen, dass man mit dieser Maßnahme die Wehrpflicht abschafft, auch wenn sie im Grundgesetz bleibt.

Deutschlandradio Kultur: Das weiß ja jeder eigentlich auch de facto. Aber gerade in Ihrer Partei, der Union ...

Volker Rühe: Ob es jeder weiß, weiß ich noch nicht.

Deutschlandradio Kultur: In Ihrer Partei, in der Union, hieß es ja bis vor kurzem: "Auf die Wehrpflicht kann man unter keinen Umständen verzichten." Und jetzt folgt jeder Guttenberg – eigentlich ziemlich schnell. Also, nur ein Lippenbekenntnis?

Volker Rühe: Nein. Ich glaube, dass man strategisch da reingeschlittert ist. Ich glaube, man kann das sicherheitspolitisch begründen, dass man die Wehrpflicht nicht mehr braucht, aber sie ist eigentlich ad absurdum geführt worden dadurch, dass man in den Koalitionsverhandlungen mit der FDP vor einem Jahr die Wehrpflicht auf sechs Monate reduziert hat. Was bedeutet, dass man in einer kleiner werdenden Bundeswehr 10.000 Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten als Ausbilder braucht, aber die Wehrpflichtigen, wenn sie fertig sind, der Bundeswehr gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Insofern ist faktisch, etwas zugespitzt formuliert, die Wehrpflicht von Frau Merkel und von Herrn Jung abgeschafft worden – nur sind die nicht stolz darauf gewesen und haben das auch nicht gemerkt vor einem Jahr. Jetzt geht es darum, eine Berufsarmee aufzubauen, aber nicht national, sondern im europäischen Verbund.

Deutschlandradio Kultur: Darum geht’s. Und es geht auch um eine effektivere Bundeswehr. Da sind sich zumindest CDU, CSU, FDP einig, wenn man die Reaktionen auf die Vorschläge der Strukturkommission, die diese Woche bekannt wurden, noch mal nachliest. Deshalb die Frage: Das, was die Strukturkommission dem Verteidigungsministerium herbe vorwirft, ist das tatsächlich im Kern so richtig getroffen?

Volker Rühe: Ich kann das im Einzelnen nicht begründen. Ich finde es gut, dass hier eine ungeschminkte Bestandsanalyse gemacht wird, auch ein Verdienst des Ministers, und dass er hier der Kommission völlige Freiheit gegeben hat. Ich finde, die Debatte in Deutschland ist im Ausgangspunkt eher rein finanziell gewesen – ein bisschen Sicherheit nach Kassenlage, auch wenn man das bestreitet. Und jetzt ist sie rein organisatorisch. Und das kann es nicht sein.
Ich hätte mir eine Kommission gewünscht, in der auch stärker gefragt wird: Was für Streitkräfte brauchen wir eigentlich in der Zukunft? Wohin marschieren unsere Soldaten? Es kann nicht sein, dass wir die Bundeswehr für Afghanistan optimieren. Das Abenteuer Afghanistan muss beendet werden.

Und ich glaube, dass man nicht im nationalen Alleingang eine Nationalarmee schaffen kann, sondern die Bundeswehr ist eine Bündnisarmee, eine europäische Armee. Auch wenn man Geld sparen will, bedeutet das, dass man sich fragen muss, ob jede Armee das gesamte Spektrum haben muss von Heer, Luftwaffe, Marine oder ob man nicht mehr arbeitsteilig in Europa vorangeht, dass nicht jeder alles macht. Und diese Dimension, die sicherheitspolitische Debatte fehlt einfach ein bisschen – zu organisatorisch, zu sehr auf das Finanzielle abgestellt.

Deutschlandradio Kultur: Mal ganz unabhängig davon: Sie waren ja lange Herr im Hause dieses Verteidigungsministeriums. Lässt sich denn so ein Apparat, so wie es jetzt die Kommission vorschlägt, so mir nichts dir nichts um 50 Prozent reduzieren?

Volker Rühe: Die Leute lösen sich ja nicht in Luft auf. Das ist, glaube ich, auch ein großes Missverständnis. Es geht darum, wer dem Ministerium zugeordnet wird. Wenn Sie die Teilstreitkräfte, die Inspekteure der Teilstreitkräfte aus dem Ministerium herausnehmen, dann lösen die sich ja nicht auf, sondern dann geht die Marine nach Rostock und das Heer, was weiß ich, nach Koblenz oder ähnliches. Es geht ja nicht darum, diese Leute abzuschaffen, sondern die Frage ist, ob sie innerhalb des Ministeriums angeordnet sein müssen. Und da spricht einiges für diese Überlegung. Aber das muss man sich jetzt im Einzelnen anschauen.

Deutschlandradio Kultur: Und die Idee, den Bonner Standort aufzugeben und ganz nach Berlin zu gehen?

Volker Rühe: Also, wir haben auch schon – muss ich sagen – Mitte der Neunzigerjahre, als die Berlinentscheidung fiel und wir uns überlegt haben, wir haben ja die Entscheidung getroffen, selbst in den Bendlerblock zu gehen. Eines Tages wird es das Ministerium in Berlin geben, aber dann eben konzentriert auf die reinen ministeriellen Aufgaben. Und dann wird es Unterbehörden geben. Also, Bonn blutet deswegen nicht aus.

Deutschlandradio Kultur: Interessant finde ich ja, dass aus Expertensicht in diesem Papier steht, dass von Grund auf die Entscheidungsstrukturen neu organisiert werden müssten im Verteidigungsministerium. Das ist eine dermaßen radikale Kritik, wo man sich fragt: Warum kommt man zu diesem Ergebnis erst jetzt? Das hätte man ja schon vor Jahren, Jahrzehnten zu Ihren Amtszeiten schon in Angriff nehmen können.

Volker Rühe: Ja, ich habe immerhin sechseinhalb Jahre das Haus geführt – und ich denke, es hat keinen einzigen Skandal gegeben – mit einem sehr starken Planungsstab und auch durch harte Führung. Ich glaube, dass in der Zwischenzeit auch einiges aus dem Ruder gelaufen ist. – Aber, alles zu seiner Zeit. Weil jetzt auch von der "Jahrhundertreform" gesprochen wird, also, Gerhard Stoltenberg und ich haben von 1990 bis 98 aus zwei Armeen eine gemacht, über 500.000 Soldaten der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee in eine Armee mit 300.000 Soldaten reingebracht. Und wir haben 10.000 Offiziere und Unteroffiziere der NVA in die Bundeswehr integriert. Kein einziger im diplomatischen Dienst ist übernommen worden, in den höheren Dienst.

Noch mal: Wir dürfen jetzt auch nicht den Fehler machen, alles in Richtung Afghanistan zu optimieren. Denn im Grundgesetz steht: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Und die Verteidigung des Bündnisgebietes, nicht Deutschland, sondern des Bündnisgebietes ist die erste Aufgabe. Sicherlich brauchen wir mehr Fähigkeiten, auch in internationalen Einsätzen präsent zu sein. Aber man muss sich lösen von der jetzigen konkreten Situation. Die Soldaten in Afghanistan brauchen das nötige für ihren Schutz und für den Einsatz, aber die Bundeswehr der Zukunft darf nicht danach geformt werden. Es muss nicht jeder alles machen. Das ist ein Gesichtspunkt, der mir fehlt. Und deswegen: Die Reform der Bundeswehr kann nicht im nationalen Alleingang erfolgen.

Wir sehen das ja auch an den Überlegungen in England zum Beispiel, die wollen weiter zwei Flugzeugträger haben. Einen müssen sie gleich einmotten, aber zehn Jahre haben sie keine Flugzeuge, die dort landen oder starten können. Dazu brauchen sie endlich die Zusammenarbeit mit den Franzosen. Das heißt, dies ist auch unter Kassendruck überall voll im Gange. Und deswegen ist es ein bisschen rückständig, dass die deutsche Diskussion eigentlich nur sehr national geführt wird.

Deutschlandradio Kultur: Das könnte sich ja gut öffnen. In zweieinhalb Wochen findet der Nato-Gipfel in Lissabon statt. Und der Nato-Generalsekretär hat schon mal zumindest verlauten lassen, dass es hier um eine neue Strategie der Nato geht. Und wenn sie die klar haben, dann können sie auch die Rollenverteilung vielleicht neu aufteilen, was das Militär angeht, was Sie besprochen haben.
Was erwarten Sie sich denn von diesem Nato-Gipfel?

Volker Rühe: Was ich gesagt habe, ist unabhängig davon. Wir brauchen Arbeitsteilung unter den Europäern. Wir vergeuden viele Ressourcen, weil jeder alles manchen will. Und hier müssen gerade Nationen wie Deutschland auch selbst die Initiative ergreifen. Der Nato-Gipfel muss die historische Chance nutzen, einmal sich den neuen Herausforderungen zu widmen. Es ist ja kein Zufall, dass neben dem Terrorismus und der Gefahr der nuklearen Proliferation Cyberwar als die dritte ganz große Gefährdung gesehen wird, wobei einige sogar glauben, dass das einen Artikel 5 auslösen kann. Aber das ist eine komplizierte Frage. Es zeigt nur, es gibt ganz neue Bedrohungen, globale Bedrohungen. Und die haben wir gemeinsam mit Russland.

Deswegen ist der zweite große Punkt: Wie entwickelt sich das Verhältnis zu Russland? Ist Russland ein Gegner oder ein Partner? Soll Russland innerhalb der euroatlantischen Sicherheitsstrukturen wirken oder außerhalb? Deswegen habe ich ja gesagt mit einigen Kollegen zusammen, die Nato muss im Prinzip sich öffnen. Ich weiß auch, dass das nicht über Nacht geht. Das ist ein Prozess mit Zwischenschritten. Und die dürfen jetzt nicht verpasst werden.
Zum Beispiel Missile Defense, Abrüstung bei den taktischen Atomwaffen, also, das ist die eigentliche große Aufgabe neben der Analyse der neuen Bedrohungen, wie arbeiten wir mit Russland zusammen. Denn ich sehe eigentlich drei Teile, nämlich die USA, Europa und Russland. Und wenn man so will, wenn alles gut läuft und wenn wir die historische Chance ergreifen, dann kann Russland eines Tages ein dritter Westen werden.

Deutschlandradio Kultur: Medwedew wird ja nun nach Lissabon kommen. Es wird nicht so weit gehen, dass Russland jetzt sofort der Nato beitritt, aber welche Annäherung oder welche konkreten Ergebnisse erhoffen Sie sich denn von diesem Dialog?

Volker Rühe: Also, ich finde es einen mutigen Schritt. Denn die Nato ist ja in Russland immer noch ein four letter word, also eher ein Schimpfwort. Ich hoffe, dass Medwedew auch nicht enttäuscht wird, sondern dass es Fortschritte gibt. Und ganz konkret bedeutet das, dass man nicht nur klar macht, dass man nicht mehr sich als Gegner definiert, sondern dass man konkrete Projekte miteinander betreibt. Und ich hoffe, dass man etwa bei der gemeinsamen Raketenabwehr gegen Gefahren, die von außen kommen, hier weiter vorankommt.
Deutschlandradio Kultur: Also, wenn wir bei diesem geplanten Raketenabwehrschirm bleiben, dann würden Sie sagen, ohne eine klare Vereinbarung mit den Russen sollten wir die Finger davon lassen. Nur in klarer Absprache mit Russland ist so was überhaupt denkbar und machbar?

Volker Rühe: Ja, genau. Es muss jedenfalls glaubwürdig die Öffnung da sein. Das ist dann immer noch die russische Entscheidung, ob sie sich beteiligen. Aber das darf nicht kosmetisch sein, sondern eine glaubwürdige Einladung sich zu beteiligen. Denn es gibt ja die gemeinsame Bedrohung. Entweder gibt es eine Bedrohung, dann ist es eine gemeinsame Bedrohung sowohl für Russland als auch für Europa und für Amerika, oder es gibt diese Bedrohung nicht.

Deutschlandradio Kultur: Herr Rühe, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass es notwendig sei, die Aufgaben einer Bundeswehr und darüber hinaus die internationalen Bündnisaufgaben zu definieren. Wir warten eigentlich bis heute darauf, dass die Nato hier konkreter wird. Das wird jedes Mal angekündigt. Der Generalsekretär Rasmussen sagt, er hat wieder ein Papier im Koffer, das er präsentieren will. Aber so richtig die Hoffnung darauf, dass es konkret wird, hab ich eigentlich nicht. Haben Sie sie?

Volker Rühe: Na, ich glaube schon, dass es mehr Klarheit geben wird über die neuen Bedrohungen. Aber da muss man doch noch mal auf die deutsche Situation zu sprechen kommen.

Die Bundeswehr ist mehr als jede andere Armee von Beginn an eigentlich entstanden aufgrund einer konkreten Bedrohung, nämlich durch Expansion, Stalin, der Sowjetunion. Und deswegen haben viele das Gefühl, man muss immer gleich sagen, wer der Feind ist, wenn ein Land Streitkräfte hat. Das ist eine Debatte, die Sie anderswo nicht in dieser Form haben. Für mich immer noch die beste Formulierung, unaufgeregteste, ist eine, die von Richard von Weizsäcker, der gesagt hat: "Jedes Land braucht Streitkräfte, damit es nicht herumgeschubst wird." Das heißt, Sie müssen nicht immer gleich sagen, wer der Feind ist. Der Feind kann auch die Instabilität sein.

Natürlich müssen wir auch in der Lage sein, das haben wir ja auch schon Anfang der 90er Jahre angefangen, auf der Grundlage von UN-Mandaten zusammen mit Bündnispartnern, europäischen oder in der Nato, internationale Einsätze durchzuführen. Aber die Bundeswehr darf nicht nur daraufhin optimiert werden und schon gar nicht in Richtung Afghanistan, wo ich glaube, dass wir eine politische Lösung anstreben müssen und dass es eine schlimme Fehlentwicklung gegeben hat in dem Abenteuer in Afghanistan. Und die Soldaten brauchen alle Hilfe, aber die Bundeswehr der Zukunft darf nicht für ein Beispiel wie Afghanistan optimiert werden.
Ich bin im Übrigen davon überzeugt und ich hoffe auch, dass es eine vergleichbare Entwicklung so schnell nicht wieder geben wird.

Deutschlandradio Kultur: Afghanistan liegt Ihnen sehr am Herzen. Das wurde in dem Gespräch deutlich. Deshalb auch die Frage: Seit neun Jahren sind deutsche Soldaten in Afghanistan, kämpfen am Hindukusch – für was und für wen auch immer. Würden Sie denn heute sagen, der Einsatz war falsch, er hat sich überhaupt nicht gelohnt?

Volker Rühe: Am Anfang war ja der konkrete Bezug zu Nine Eleven und zum Terrorismus, im Unterschied zum Irak, wo das konstruiert war. Aber dann ist es – man nennt das Mission Creep – hat sich ausgeweitet. Heute bekämpft man die Taliban. Es sind aber nicht Alkaida. Wir können aber nicht bestimmen, wer in Afghanistan regiert. Und wenn Sie sehen, dass ein Drittel der Wahlstimmen gefälscht worden sind, zeigt das, dass wir keinen glaubwürdigen Partner in der dortigen Regierung haben. Und deswegen war es falsch zu glauben, man könne hier einen afghanischen Zentralstaat demokratisch strukturieren. Das Land war nie ein Zentralstaat und es war nie demokratisch. Deswegen müssen wir uns drauf konzentrieren, den Terrorismus zu bekämpfen. Und die sind an vielen Orten. Und wir brauchen eine politische Lösung für Afghanistan.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man das kritisch sieht – und ich entnehme das Ihren Worten, dass Sie zu denen gehören, die das so sehen -, könnte man von einem zumindest militärischen sicherheitspolitischen Fiasko sprechen. Nun wird die Nato nicht müde, gerade den Einsatz in Afghanistan als zukunftsweisend für das Bündnis, als einen Garanten der Stabilität zu preisen. Ist das nicht kontraproduktiv?

Volker Rühe: Also, ich finde, es gibt dort eine schreckliche Asymmetrie. Wenn Sie sich mal vorstellen, die Nato hat sich selbst als das größte und erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte bezeichnet, und die kämpfen jetzt gegen die Taliban. Die haben sie auch weltpolitisch auf eine Bühne gehoben. Die Taliban haben eine regionale Agenda und sie haben nicht die Fähigkeit, New York oder Hamburg anzugreifen. Und die Sicherheit Deutschlands steht insofern auf dem Spiel, als es um die Zukunft der Nato geht. Das heißt, die Nato kann nicht davonrennen. Das weiß ich auch. Aber der Gefahr des Terrorismus kann man nicht durch ein 100.000-Mann-Heer begegnen.

Ich bin im Übrigen auch der Überzeugung, wenn dann mit den Atomwaffen in Pakistan argumentiert wird, dass es eher schwieriger ist, den Fundamentalismus in Pakistan zu bekämpfen, wenn da 130.000 westliche nichtmuslimische Soldaten in der Region sind. Also, auch hier brauchen wir eine wirkliche strategische Analyse. Und die kann eigentlich nur heißen: Die Nato kann nicht davonlaufen. Es ist wichtig für unsere Sicherheit, die Zukunft der Nato zu sichern, aber wir brauchen eine politische Lösung. Wir können nicht entscheiden, wer Afghanistan regiert.

Deutschlandradio Kultur: Aber bei der politischen Lösung muss man sich ja was drunter vorstellen. Das heißt, wir brauchen ein Abzugsszenario für die nächste Zeit. Und wir müssen das klar definieren. Oder wir wollen so lange drin bleiben, bis tatsächlich die Korruption aus dem Land draußen ist. Also, was steckt bei Ihren Überlegungen dahinter?

Volker Rühe: Wenn Sie da bleiben wollen, bis die Korruption raus ist, also...

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir lange drin.

Volker Rühe: Dann kann es sich nur um ein Jahrhundert handeln. Ich glaube, es gibt ja diese Überlegungen schon. Sie sind von den Amerikanern ja gestartet worden, dass man ab dem nächsten Jahr beginnen wird und dass man eben nicht den Eindruck vermittelt, wir würden dort beliebig lange bleiben – egal, wie die afghanische Regierung sich verhält. Dem sollten wir uns anschließen, dass dieser Prozess beginnt, und zwar unumkehrbar. Aber wir müssen natürlich auch militärisch solidarisch sein. Die Nato hat ja erst 2005 insgesamt ISAF übernommen dort. Vorher waren das einzelne Hauptquartiere. In dem Moment waren wir auch im Krieg, auch wenn es damals im Norden keinen Krieg gegeben hat.

Der Krieg ist jetzt in den Norden gekommen und der Norden hat riesige strategische Bedeutung für die logistische Versorgung, übrigens auch für den Rückzug später. Das muss Deutschland wissen, dass die Lage der Bundeswehr dort nicht einfacher wird. Deswegen müssen wir in Solidarität mit dem Bündnis militärisch das Notwendige tun, aber immer mit der Zielsetzung zu einer politischen Lösung zu kommen. Und wenn ich höre, dass jetzt Talibanführer auch schon mit Natoflugzeugen eingeflogen werden zu Gesprächen, ich kann das nicht überprüfen, dann ist das der richtige Schritt.

Deutschlandradio Kultur: Das Ganze ist ja schon längst auch ein innenpolitisches Problem. Die Mehrheit der Deutschen ist gegen den Einsatz. Wie lange kann es sich die Bundesregierung denn leisten, gegen diese öffentliche Meinung jedes Jahr das Mandat zu verlängern. 2013 haben wir Wahlen. Die SPD bleibt vielleicht nicht dabei.

Volker Rühe: Ja, man muss ja tiefergehender fragen. Warum ist das so? Wir haben ja am Anfang, als es sehr schwer war, die ersten Einsätze durchzuführen in Somalia und dann vor allen Dingen Bosnien und Kosovo, eine Mehrheit in der Bevölkerung gehabt, weil wir deutlich gemacht haben, ich habe meine Rede auch damals im Bundestag gehalten, die, glaube ich, die Grünen dann auch zu einem Kurswechsel gebracht hat: Es kann sehr unmoralisch sein, Soldaten einzusetzen. Es kann auch sehr unmoralisch sein, sie nicht einzusetzen. Und das ist über Srebrenica deutlich geworden, über die Bilder von den Flüchtlingen aus dem Kosovo nach Mazedonien. Und deswegen hatten wir dort für diese ersten sehr schwierigen Einsätze eine Mehrheit in der Bevölkerung. Die brauchen Sie auch. Aber die Begründung für Afghanistan, die trägt nicht, dass man sagt, wir bekämpfen den Terrorismus. Selbst die Anschläge von Nine Eleven, die Hauptquartiere waren hier in Hamburg-Harburg, Mohammed Atta. Und das Fliegenlernen haben sie nicht in Afghanistan gelernt, um Flugzeuge in die Hochhäuser zu fliegen, sondern das haben sie in Florida oder Kalifornien gelernt. Und deswegen trägt das nicht. – Im Unterschied zu Bosnien und Kosovo, wo die Perspektive der europäischen Mitgliedschaft da ist, kann man auch Nation Building dort machen, schwierig genug gewesen. Aber Nation Building in Afghanistan? Also, mit westlichen Strukturen und westlichen Überlegungen, das war von Anfang an auch auf dem Petersberg, muss man im Nachhinein sagen, eine falsche Überlegung.

Deutschlandradio Kultur: Herr Rühe, wenn ein Vertreter der Linken, der Partei DIE LINKE, jetzt hier sitzen und sagen würde, der Rühe hat recht, raus aus Afghanistan, das fordern wir schon lange – ist jetzt irgendwann doch der Zeitpunkt da?

Volker Rühe: Im Unterschied zu den Linken habe ich auch vor einem Jahr mich dafür eingesetzt, dass wir das Engagement verstärken militärisch, um zu einer politischen Lösung zu kommen. Also, man muss sich ja wirklich fragen: Warum ist die Haltung in der Öffentlichkeit dort? Das liegt ja nicht an der Argumentation der Linken. Warum schaffen es die Regierungsparteien nicht, haben es nicht geschafft, hier einen Konsens zu schaffen? Und den brauchen Sie. Sie brauchen gut ausgerüstete Soldaten, aber Sie brauchen auch den Konsens in der Gesellschaft, sonst ist irgendwas faul im Staate Dänemark.

Und ich glaube, es liegt daran, dass die Argumente nicht überzeugen, so wie ich das auch gesagt habe. Terrorismusbekämpfung, dafür sind die Menschen. Aber ist das wirklich noch Terrorismusbekämpfung? Die Taliban haben eine regionale Agenda nach meiner Überzeugung. Das sind sehr unsympathische Zeitgenossen, aber die gibt’s in vielen Staaten der Welt. Und deswegen glaube ich, dass das Bündnis sich dort übernommen hat sozusagen, einen modernen demokratischen Zentralstaat zu schaffen. Das war gegen alle historischen Kenntnisse in Afghanistan. Und daraus muss man auch die Konsequenzen ziehen.

Und im Übrigen brauchen Sie einen Partner in der Entwicklung dort. Und die Regierung dort ist das nicht. Deswegen brauchen wir eine politische Lösung in dem Moment, wo das deutlich wird. Und die kriegen wir natürlich nicht, wenn wir einfach weglaufen, sondern die kriegen wir auch nur, indem die Soldaten der Nato sozusagen auch klar machen, es muss zu einem politischen Kompromiss kommen. In dem Moment, wo dies deutlich wird, haben wir auch die Chance, die Öffentlichkeit zu gewinnen.

Deutschlandradio Kultur: Aber machen Sie mal einer Mutter, einem Vater klar, dass ihr Sohn sterben musste, weil Deutschland ein gutes Nato-Mitglied sein will.

Volker Rühe: Ja, das ist völlig richtig. Ich hab mir damals vorgenommen, hab das auch durchgeführt, wir hatten ja auch Tote, nur das zu machen, wo ich den Eltern in die Augen schauen kann und sagen kann, warum dieser Einsatz sein musste. Ich könnte das bei Afghanistan nicht.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, dieses Projekt Afghanistan, wenn man in die Zukunft blickt, so was sollte die Nato in den nächsten Jahren möglichst nicht mehr in Angriff nehmen, weil es sich als nicht managebar erwiesen hat?

Volker Rühe: Terrorismusbekämpfung ja, aber das kann man mit Special Forces machen und anderen Dingen. Aber nicht Nation Building in fernen Gebieten, wo es überhaupt gar nicht die Chance gibt wie im europäischen Umfeld – schwer genug im Kosovo und in Bosnien – hier sozusagen dann auch insgesamt einen Staat und eine Gesellschaft so zu verändern, dass dort Frieden und Stabilität einkehrt. Also, wir sollten daraus lernen, uns nicht zu übernehmen mit dem, was man militärisch erreichen kann. Sie können mit noch so modernen militärischen Mitteln nicht erreichen, dass in Afghanistan Demokratie und ein moderner Zentralstaat sich entwickeln. Das ist gegen die Geschichte.

Deutschlandradio Kultur: Abschließende Frage, Herr Rühe: Sie sind nicht mehr politisch tätig, aber Sie engagieren sich in so genannten Think Tanks, Denkfabriken, beschäftigen sich dort mit internationaler Sicherheitspolitik. Das sind aber im großen Teil amerikanische Unternehmen, an denen Sie sich da beteiligen. Wie kommt es, dass so was hier in Deutschland nicht Fuß fasst?

Volker Rühe: Carnegie, europäische Sicherheitsstruktur, CSIS über die Ukraine mit Brezinski, ich finde, das ist noch ein großes Manko. Wir haben die SWP. Die ist sehr gut, aber sie ist zu 100 Prozent regierungsfinanziert. Es fehlen die unabhängigen Think Tanks. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass es einen deutschen Think Tank gibt, der nüchtern und ohne Illusionen mal Afghanistan analysiert, so wie ich das gemacht habe. Das gibt es nicht.

Mein Eindruck ist, dass vielfach in der Regierung – und unabhängig, wer gerade regiert – das nicht als Bereicherung empfunden wird. Das ist anders in Washington. Deswegen würde ich nur allzu gerne auch in deutschen Think Tanks mitarbeiten, aber im Augenblick habe ich die besten Arbeitsmöglichkeiten und da gibt’s überhaupt keinen amerikanischen Einfluss auf mich. In Carnegie zum Bespiel ist nur ein Drittel Amerikaner, ein Drittel Westeuropäer und ein Drittel Russen. Und wir arbeiten in einem Zweijahresprogramm über die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur. Warum gibt’s so was nicht in Deutschland?

Deutschlandradio Kultur: Wir können auch umgekehrt fragen: Wenn es die guten Think Tanks in Amerika gibt, warum kommen die nicht zu besseren Konfliktlösungen weltweit?

Volker Rühe: Ah, ja, gut. Ich meine, die Politik muss dann immer auch noch die richtigen Konsequenzen ziehen. Aber ich meine, ich glaube, dass die Amerikaner, was das globale politische Denken angeht, uns schon noch einiges voraus haben. Da gibt’s immer auch Fehlentwicklungen, jetzt, was den Irak angeht, aber die deutsche Politik ist häufig auch noch sehr provinziell. Das kann man den Amerikanern also nun wirklich nicht vorwerfen.

Sie verstehen auch sehr viel mehr vom Kaschmir-Konflikt, auch vom Nahost-Konflikt. Auch da: Warum gibt es keinen Think Tank, der sich mal wirklich mit dem Nahost-Konflikt beschäftigt, auch mit der Rolle, die zum Beispiel die Nato, europäische und amerikanische Soldaten, spielen müssten, um einen palästinensischen Staat und einen israelischen Staat sicherheitsmäßig mit abzusichern?

Wir brauchen mehr strategische Debatten, nicht so viel Taktik und Tagespolitik. Und deswegen auch noch mal, um zum Anfang zu kommen, ich würde mir wünschen, nicht nur über Finanzen und Ministeriumsorganisationen zu sprechen, so faszinierend das ist, sondern über die Frage, was brauchen wir eigentlich im 21. Jahrhundert, wohin soll unsere Armee marschieren, wohin sollte sie nicht gehen, und zu begreifen, dass man nicht mehr national das organisieren kann, sondern nur im europäischen Verband.

Deutschlandradio Kultur: Herr Rühe, wir danken für das Gespräch.

Volker Rühe: Bitte.