"Dann war die Welt schon ne andere ..."

Von Meinhard Stark · 07.10.2009
Jana Kellermann, Moritz Leo und Johannes Hanf erlebten ihre Kindheit und ersten Jugendjahre in der DDR. Die Wiedervereinigung hat ihr Erwachsenwerden beeinflusst - eine Rückschau mit Blick auf die Gegenwart.
Moritz Leo: "Wir haben uns neulich erst mit unseren Freunden (...) unterhalten, (...) ist eigentlich irre, nach 20 Jahren. Ist eine riesige Zeit, eigentlich. (...) Und trotzdem ist dieses Land eigentlich noch täglich präsent, überall."

Jana Kellermann: "Ich bin eine sehr engagierte und überzeugte Pionierleiterin gewesen, also ich bin Gruppenratsvorsitzende gewesen in meiner Schulklasse. Habe dem System, in dem ich gelebt hab (...) voll und ganz vertraut."

Johannes Hanf: "Da bleibt für mich als Bedeutendes, Besonderes (...) zurück, dass Geld keine Rolle gespielt hat. (...) Hat sicherlich auch was damit zu tun, wie meine Eltern gelebt haben zu der Zeit. Also, dass ganz klar war: Der Raum, den Geld und Finanzen heutzutage einnehmen, der existierte nicht. Und damit hatte man sehr, sehr viel Raum für Freunde, andere Dinge, ne."

Moritz Leo: "Die Aussicht, kein Abitur machen zu können in der DDR, hatte mich damals, so mit 14, schon ziemlich stark belastet. (...) Weil in jeder Klasse nur zwei bis drei Leute zum Abitur delegiert worden sind. Und da wurden nicht immer nur die Besten, sondern auch die Gehörigsten, die Hörigen genommen."

Moritz Leo, geboren 1975 in Ostberlin.

Jana Kellermann kommt zwei Jahre später in Rostock zur Welt.

Jana Kellermann: "Ich wollte Lehrerin werden für Geschichte und Deutsch. Vielleicht hätte ich auch ne Pionierleiterausbildung gemacht. Also, ich bin da ganz fest dem System treu und verhaftet gewesen."

Johannes Hanf: "Heute verbringt man nicht nur Zeit mit der Steuererklärung, sondern man unterhält sich dann auch über ne Steuererklärung mit den Freunden. Und früher waren das einfach andere Sachen, die dann viel präsenter waren, (...) einfach politische Dinge."

Johannes Hanf ist so alt wie Moritz und wächst ebenfalls in der DDR-Hauptstadt auf.

Moritz Leo: "Die zweite Problematik war die Armee, die dann notwendigerweise nach Schulabschluss auch auf mich zugekommen wäre. Da warn also so n paar Sachen, die sich da vor mir aufbauten, wo unklar war, wo das nachher hinführt."

Ein Blick in die biographischen Erfahrungen von Jana, Moritz und Johannes gibt Aufschluss über ihre individuellen Einstellungen, Konflikte und Chancen während der Friedlichen Revolution und den nachfolgenden Jahren. Ihre Lebensgeschichten sind freilich nicht repräsentativ für alle jungen Leute aus der DDR. Aber sie ermöglichen uns, diese Generation anders als durch das Zahlenspiel statistischer Erhebungen zu betrachten.

Mehrere zehntausend Mitglieder der Freien Deutschen Jugend begrüßen am 6. Oktober 1989 während eines Fackelzuges die ausländischen Gäste zum 40. Jahrestag der DDR, darunter der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Er ist der Hoffnungsträger vieler junger Ostdeutscher.

Johannes hat an den letzten Geburtstag der DDR keinerlei Erinnerungen. Jana könnte, so meint sie, mit ihrer Tanzgruppe bei einem der offiziellen Volksfeste aufgetreten sein. Und Moritz besucht mit seinen Eltern eine gute Freundin der Familie, bei diesem Treffen geht es um Flugblätter gegen das SED-Regime.

Moritz Leo: "Und auf dem Alexanderplatz wurden wir schon kontrolliert, von mutmaßlichen Angehörigen der Staatssicherheit in Zivil, die uns die Ausweise kontrollierten, fragten, wo wir hin wolln. Und mein Vater hat dann (...) den erst mal gleich angemacht und gesagt, wer er überhaupt ist und warum er sich einbildet, ihn überhaupt ansprechen zu dürfen. Hat so n bisschen sehr provokativ reagiert. Hat dann aber auch ganz klar gesagt, er ist niemanden Rechenschaft darüber pflichtig, wo er am Tag der Republik seine Zeit verbringt und wo er jetzt hinfährt, so."

Die Protestkundgebungen werden immer größer, vor allem in Leipzig. Am 16. Oktober ziehen mehr als 120.000 Bürgerinnen und Bürger mit dem Ruf "Wir sind das Volk" durch die Innenstadt. Zwei Tage später muss Honecker zurücktreten. Krenz kommt und bringt den Begriff der "Wende" in Umlauf, der umgangssprachlich bis heute weit verbreitet ist.

Jana Kellermann: "Der Begriff Friedliche Revolution mag auch nicht glücklich sein, aber ich verwende ihn lieber als das Wort Wende."

Die größte Kundgebung gegen die SED-Diktatur findet am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz statt. Mit dabei Moritz Leo und Johannes Hanf.

Johannes Hanf: "Ja, es war einfach spannend. (...) Auch zum großen Teil nicht wegen der Inhalte für uns unbedingt, die wir nicht voll erfassen konnten, sondern vor allen Dingen (...) wegen dem: Da ist was los, da passiert was. Das Gefühl, dass da irgend ne Veränderung gerade ist zu dem Alltäglichen, zu dem, was man gewohnt war."

Moritz Leo: "Und da sind wir den ganzen Tag durch die Stadt gezogen. Und ich habe (...) die Reden noch so mitverfolgt. Aber das vermischt sich jetzt in der Rückbetrachtung auch mit den Tonbeispielen, die ich später gehört habe. Ich habe diese Reden alle noch im Kopf. Aber die habe ich nicht im Kopf, weil ich sie mir damals gemerkt habe. Ich habe damals von den Reden, glaub ich, gar nichts mitbekommen, sondern nur, weil ich sie später immer wieder gehört hab."

Johannes Hanf: "Das Resultat (...) dieser Samstagsveranstaltung war, dass wir n Tadel bekommen haben, weil wir ja dem Unterricht ferngeblieben sind, unerlaubterweise. (lacht)"

Mauerfall 9. November 1989, CD "Auf der Kippe":
"Sprechchor: ‚Tor auf, Tor auf, Tor auf!’ Frau: ‚Ich bin so was von glücklich, ich kann meine Eltern heute das erste Mal seit langem mal wieder sehen, die wohnen wirklich nur zehn Minuten von hier entfernt. Ich bin überglücklich.’ (Freudenweinen) Mann: ‚Die ersten fragen, wie kommen wir zum Kudamm. Ist schon super.’ (Beifall)"

Moritz Leo: "Meine erste Reaktion war, ich will da hin, sofort und gucken, was da passiert. Und da bin ich im Nachhinein immer noch sauer, dass meine Eltern mich nicht gelassen haben. Ich war 14 und die haben gesagt, du bleibst zu Hause, du gehst heute Abend ins Bett. Weil, die hatten auch Angst, dass da was passiert. (...) Und deswegen ist der 9. November dann für mich relativ unspektakulär zu Ende gegangen. Wir sind ins Bett gegangen und als ich aufgewacht bin, dann war die Welt schon ne andere."

Viele junge Leute gehen wie Johannes Hanf, Moritz Leo und Jana Kellermann aufgeschlossen in diese andere Welt und nutzen die sich bietenden Freiräume in den nächsten Monaten und Jahren.

Moritz Leo: "Nichts ging so weiter. Das war das Schöne, sondern alles hat sich geändert. (...) Die Schule, das war ja mein täglicher Aufenthaltsort. Und da hatte sich alles geändert. Die doofen Lehrer haben uns nichts mehr gesagt oder haben sich nicht mehr getraut. Wir haben sofort einen Schülersprecherrat ins Leben gerufen und haben selber Entscheidungen getroffen. Die Autorität war weg, der Lehrer, und das war ne unglaublich befriedigende Situation für mich, der schon vor sich sah, in diesem System sich irgendwie arrangieren zu müssen. Und ich konnte mich auf einmal als 14, 15-Jähriger da hinstellen und konnte sagen, ihr könnt mich mal, ich mach jetzt mein Ding hier."

Johannes Hanf: "Es gab so zwei Jahre (...) nach der Wende, wo – ich sag mal – so ’n freier Raum war, in dem man alles gestalten konnte, was man wollte, wenn man sich engagiert hat. Und da ist man Leuten begegnet, die dann genauso motiviert oder engagiert waren und dann einfach irgendwas gemacht haben. Da ging’s dann gar nicht darum, politisch irgendwas zu bewegen, sondern (...) einfach sozusagen Akteur zu sein in irgendeiner Weise."

Moritz Leo: "Alle diese Themen der Bürgerbewegung waren wichtig, weil sie bei uns Gesprächsthema waren, jeden Tag am Abendbrots- und am Frühstückstisch. Alle politischen Themen, die 1989, 90, 91 ne Rolle spielten, haben wir Zuhause diskutiert und ich saß dabei."

Jana Kellermann: "Also, in unserer Familie wurde darüber nicht so viel gesprochen. Ich kann mich nicht daran erinnern."

Moritz Leo: "Wir sind dann abends in irgendwelchen Jugendklubs gewesen, oder haben selber, haben Theatergruppen gegründet. Und haben uns irgendwie – das war so ne richtige Befreiung. Also, da ging meine – wahrscheinlich parallel mit der Pubertät – ging meine Unabhängigkeit von zu Hause los, die Unabhängigkeit von dem blöden Schulsystem, von dem Staat. Das brach in dem Moment alles raus, erst mal noch n bisschen unkontrolliert. (...) Aber (...) das ging alles so Hand in Hand."

Jana Kellermann: "Wir haben dort (...) eine Schülerzeitung gegründet. Eine ganz neue Erfahrung. Ich habe angefangen, Seminare zu besuchen. Bin dann im ganz neu gegründeten Jugendmedienverband Mecklenburg-Vorpommern Mitglied geworden. Wir haben n eigenes Jugendmagazin rausgebracht. Das war dann so mein Hauptbetätigungsfeld neben der Schule."

Trotz aller Euphorie plagen Moritz anfangs gewisse Minderwertigkeitskomplexe, vor allem wenn er auf seinen Entdeckungstouren in Westberlin unterwegs ist. Dann schaut er sich genau an, was seine Altersgefährten tragen und kauft sich im Laufe der Zeit die gleichen Klamotten.

Moritz Leo: "Ich glaube, dieses Gefühl hat man wahrscheinlich mit total vielen Ostdeutschen geteilt und keiner wird so richtig beschreiben können warum, warum man sich minderwertig vorkam. Wahrscheinlich, weil der Westen immer als was Besseres angesehen worden ist. Und weil man als Ossi weniger Geld hatte, weniger von der Welt wusste, und die Westdeutschen möglicherweise erfahrener waren und uns natürlich auch was vorgelebt haben, was erst mal für viele Leute sehr erstrebenswert war."

Mit 16 modifiziert sich seine Gefühlslage. Jetzt will er zeigen, dass er aus dem Osten kommt. Im Keller seiner Schule findet er zufällig Ledergürtel, auf deren Koppelschloss das Emblem des untergegangenen Staates prangt. Wenn er jetzt in den Westen fährt, trägt er ostentativ sein DDR-Koppel über der Jeans.

Moritz Leo: "Obwohl ich mit dem System ja nichts am Hut hatte und auch mich nicht damit identifizieren wollte. Aber ich wollte doch irgendwie zeigen, dass ich anders bin und wollte mich dann nicht mehr anpassen. (...) Aber es war keine Bewusstwerdung einer Identität, sondern vielmehr – so denke ich jetzt – mehr ne Trotzreaktion."

Nachrichten zur Wiedervereinigung am Abend des 2.10.1990. Feuerwerk. Reporter:

"Die Freiheitsglocken. Ich glaube, Sie können sie hören. Wir übertragen vom Rathaus Schöneberg. Es ist wie an Silvester, nur dass es ein ganz einmaliges Silvester sein soll."

Die Reaktionen auf die Wiedervereinigung fallen eher zurückhaltend aus. Moritz sagt, die neue Staatlichkeit löste bei ihm eine eher skeptische Einstellung aus. Johannes würdigt immerhin die historische Leistung Helmut Kohls, der die einmalige weltpolitische Situation nutzte. Doch was dann kam, enttäuscht nicht nur ihn.

Johannes Hanf: "Es waren zum einen, dass dann bestimmte Ordnungen einfach wieder festgeschrieben wurden, wie was funktioniert. Man konnte also nicht mehr in irgendeinem Keller n Klub aufmachen, sondern da kam dann irgendwann das Ordnungsamt und hat gesagt, geht nicht, is nicht. Es wurden sozusagen all diese Sachen, die so wild aus dem Boden gesprossen sind, so nach und nach immer weiter zurückgeschraubt. (...) In dem Sinne, dass dieses Besetzen von Freiraum in der Stadt, in der Gesellschaft eigentlich (...) unerwünscht ist."

Als Jana Kellermann im Dezember 1990 erstmals zu einer Veranstaltung vor der ersten gemeinsamen Bundestagswahl mit dem Einheitskanzler geht, trägt sie eher unbewusst eine SPD-Fahne bei sich, die man ihr unterwegs in die Hand gedrückt hatte. Es dauert auch nicht lange, bis ihr ein älterer Herr zuraunt, "du bist wohl falsch hier".

Jana Kellermann: "Und das konnte ich nicht verstehen, warum ich ‚falsch’ war. Aber das ist vielleicht auch bezeichnend gewesen für das Gefühl der nächsten Jahre, für die Pubertät. Weil, durch die fehlende Kommunikation sich da dieses ‚Falschsein’ verfestigt hat. Nicht so richtig zu wissen, wo man hingehört. In nem Land zu leben, das plötzlich nicht mehr das gleiche ist. Plötzlich mit ganz Neuem, also mit dem Systemwechsel klar zu kommen, ohne dass einem jemand diesen Systemwechsel mal erklärt hätte."

Seit Jahren tourt die Love Parade durch Berlin. Aus anfangs 150 Teilnehmern werden zehn Jahre später 1,5 Millionen Techno-Anhänger. Auf der größten Tanzparty der Welt tummeln sich Jugendliche aus Ost und West. Eine Gelegenheit, sich kennen zu lernen, Vorurteile abzubauen.

Im Streit mit dem Berliner Senat verlässt die Love Parade 2007 die Stadt und geht weit in den Westen, ins Ruhrgebiet.

Die deutsche Hauptstadt bleibt auch ohne sie der Ort, wo Jugendliche aus beiden Teilen des Landes am ehesten zusammenkommen und kommunizieren, etwa an den Universitäten, in den zahlreichen Clubs oder andernorts.

Erfahrungen von Johannes, Moritz und Jana:

Jana Kellermann: "Das wiedervereinte Deutschland ist für mich in erster Linie auch ein ganz privater Aspekt, weil ich mit einem Mann aus Westberlin verheiratet bin. (...) Das ist natürlich n sehr positiver Aspekt für mich."

Johannes Hanf: "Wir erleben ganz oft, wenn wir so auf Partys sind und dann andere Ostdeutsche dort sind, die sich ganz stark über das Ostdeutschsein definieren. Und wo man eigentlich damit spielt, mit dem Ostsein oder Nicht-Ostsein. Es ist ganz oft so: Es reichen so ’n paar Stichworte und die denken sofort, man ist Westdeutscher."

Moritz Leo: "Ich glaube, dabei geht’s um ne ganz egoistische Nummer: Man checkt ab, ob die eigenen Vorurteile stimmen. Aber, das geht den Wessis nicht anders als uns, die checken auch sofort ab, wo man herkommt."

Die Einschränkungen des Zugangs zum Abitur und zum Studium, die viele Jugendliche in der DDR diskriminierte, werden im Zuge der Friedlichen Revolution schnell aufgehoben. Mancher Experte spricht gar von einer einsetzenden "Bildungsexplosion", an der überdurchschnittlich weibliche Jugendliche teilhaben. Dadurch verbessern sich auch ihre Chancen im späteren Berufsleben.

Jana Kellermann: "Für mich spielt die innere Freiheit ne ganz große Rolle, wahrscheinlich sogar ne größere als die Freiheit, reisen zu können. (...) Das sind schöne Erfahrungen gewesen, aber die waren nicht so wichtig, oder zumindest im Vergleich nicht so wichtig, wie die Entscheidung, einen bestimmten Studiengang zu wählen, die ich ganz für mich allein getroffen habe. Ohne, dass ich mich da konform verhalten musste, ohne dass ich ein entsprechendes Elternhaus haben musste. Ja, es gab einfach diese Bedingungen nicht mehr, sondern ich konnte frei entscheiden und das ist für mich viel wichtiger gewesen."

Auch Moritz will unbedingt studieren, doch nicht gleich.

Moritz Leo: "Ich kann mich jetzt gar nicht mehr so genau erinnern, woher die Entscheidung kam, nach St. Petersburg zu gehen und Russisch zu lernen. Das war ja ne relativ komische Entscheidung aus dieser Nähesituation zur Wende und (...) DDR."

Über Moritz’ Entschluss, nach dem Abitur nach Russland zu gehen, sind viele seiner Freunde irritiert. Im Oktober 1994 beginnt er seinen dreimonatigen Studienaufenthalt. Es ist die kalte, dunkle Jahreszeit in einem wirtschaftlich angeschlagenen Land. Dennoch verlängert er und bleibt bis Februar.

Moritz Leo: "Ich habe da unglaublich viel aus dieser Zeit mitgenommen: (...) Sprache, Horizonterweiterung. Auch so n bisschen dieses Gefühl, ich kann mich überall durchschlagen, ich komm überall zurecht. (...) Es hat Spaß gemacht, die Sprache zu lernen, die Menschen kennen zu lernen, die Kultur da kennen zu lernen, und vor allen Dingen jetzt jemand anders zu sein. Nicht der Ossi im Westen, sondern aus Sicht der Russen, der Wessi im Osten."

Während seines nachfolgenden Jura-Studiums intensiviert Moritz seine Kontakte in den Osten und organisiert Austauschseminare zwischen Studenten der Berliner Humboldt-Universität und Hochschulen in Russland, Ungarn, Lettland und Georgien.

Johannes entschließt sich für ein Architektur-Studium. Über die Professoren an der Uni in Weimar, später in Berlin, klagt er nicht. Aber er wollte nicht nur mit deutschen Studenten im Hörsaal sitzen. Ihn zieht es wieder nach Nordamerika, wo er bereits ein Schuljahr verbracht hat. Dank seiner Leistungen erhält er Stipendien und kann fast drei Jahre in den USA studieren.

Johannes Hanf: "Und an dieser amerikanischen Universität waren wir bei mir jetzt im Semester 15 Studenten in dem Masterstudiengang Architektur und da waren drei Amerikaner davon und der Rest kam eben aus aller Herren Länder. (...) Und alle brachten ihre ganz spezifischen kulturellen Erfahrungen und Eigenheiten zusammen und das war eigentlich für mich das Spannende, (...) dieses Bereichern-Lassen durch das Anderssein."

Anfang des neuen Jahrtausends steigen die drei einstigen Ostjugendlichen in den Beruf ein. Sie haben ihre Bildungschancen umfassend genutzt. Moritz Leo arbeitet als Rechtanwalt und entsorgt den Müll des kapitalistischen Marktes. Der Architekt Johannes Hanf baut als Angehöriger einer renommierten Firma in der deutschen Hauptstadt ebenso wie in Westdeutschland.

Und Jana Kellermann, studierte Politikwissenschaftlerin und Germanistin, macht Jugendarbeit und kämpft gegen den Wegzug junger Leute in Richtung Westen an.

Jana Kellermann: "Ich arbeite seit dem Herbst 2003 in der ‚Stiftung Demokratische Jugend’, die selbst am Runden Tisch der Jugend gegründet wurde, 1990, in der Übergangszeit der (...) de-Maiziére-Regierung. Diese Stiftung ist beauftragt qua Satzung Jugendarbeit in den neuen Ländern zu fördern (...) und war in Bereichen Jugendinformation, Jugendengagement, seit 2005 im Bereich (...) Perspektiven gegen Abwanderung (...) tätig."

Moritz Leo: "Ich bin ausschließlich in der Insolvenzverwaltung tätig. Also, wir verwalten insolvente Unternehmen. Das ist n sehr spezieller Bereich, auch für Juristen. Das ist so n Schnittpunkt zwischen Betriebswirtschaft und Rechtswissenschaft."

Johannes Hanf: "Eins der schönsten beruflichen Erlebnisse für mich der letzten Jahre war die Einweihung eines Bürogebäudes, was ich (...) geplant hatte, auf ner Veranstaltung mit vielen wichtigen Persönlichkeiten – Ministerpräsident Oettinger und ähnliche – und mein Chef, der Herr Braunfels, hat als Architekt dort gesprochen und sagte dann in einem Satz, dieses Gebäude haben sie nicht mir zu verdanken, sondern meinem Mitarbeiter Johannes Hanf. Und es war für mich halt so bedeutsam, weil diese Form der Anerkennung, der persönlichen Anerkennung, viel, viel mehr bedeutet als Geld, finanzielle Sachen (...) und (...) eigentlich viel zu selten vorkommt."

Jana Kellermann: "Ich bin verheiratet seit dem 20. September 2003. Und mein Sohn Paul ist am 3. April 2005 geboren worden."

Johannes Hanf: "Klar, ich bin Mitte 30, arbeite in nem Büro, bin ohne Kinder. (...) Hab dafür natürlich auch noch andere Freiheiten für mich selber, als es vielleicht mit Familie wäre. Auf der anderen Seite bin ich jetzt durch meine Arbeit, die mir Spaß macht, für mich das eher so ne Art bezahltes Hobby, natürlich auch gebunden in einer gewissen Weise, ne. Das ist auch ne Form von Abhängigkeit oder Bindung, in die man sich begibt."

Gerade die Männer in den Dreißigern schieben feste Partnerschaften bzw. die Gründung von Familien immer weiter hinaus. In Berlin ist schon jeder zweite Haushalt einer von Singles. Tendenz steigend. Man fragt sich erstaunt warum? Gerade, weil man der Familie in der DDR eine enorme persönliche Bedeutung beimaß. Und die Familie in der Werteskala der jungen Leute heute weit oben rangiert.

Deutschland hat mit durchschnittlich 8,2 geborenen Babys pro 1.000 Einwohner die geringste Geburtenrate in Europa. Und besonders niedrig ist diese in den neuen Bundesländern.

Jana und Moritz versuchen zu erklären.

Jana Kellermann: "Ich bin Einzelkind, mein Mann ist Einzelkind, wir haben ein Kind. Wir hätten nichts dagegen gehabt, auch zwei zu haben, aber es hat bisher nicht gepasst. Das wiederum ist eine Folge der unsicheren Situation, in der wir leben. Ich habe seit meinem Berufseinstieg nur befristete (...) Arbeitsverträge gehabt, mein Mann ist selbstständig, das heißt wir haben kaum Planungssicherheit und wissen nicht, ob s noch reicht, wenn einer von uns beiden ausfällt, finanziell."

Moritz Leo: "Also, ich befinde mich jetzt gerade in so nem Stadium, wo es jetzt darum geht, ne Familie zu gründen und möglicherweise Kinder in die Welt zu setzen. (...) Nach der Sturm- und Drang-Phase, nach dem Studium sich beruflich auszuprobieren und auch viel zu arbeiten. (...) Hat auch unheimlich viel Spaß gemacht, aber jetzt kommt so langsam so ne Phase, wo man merkt, jetzt hat man viele Dinge ausprobiert, dafür blieben die persönlichen Sachen so n bisschen auf der Strecke."

Jana Kellermann: "Die Angst, die ich habe ist, nicht wieder rein zu kommen mit zwei Kindern beziehungsweise wenn ich jetzt noch mal rausgehe ausm Berufsleben – und ich bin beim ersten Kind nur für die Zeit des Mutterschutzes rausgegangen – hab also acht Wochen nach der Geburt wieder angefangen zu arbeiten – das würde ich bei einem zweiten Kind nicht wieder machen. Da würde ich mir und uns als Familie mehr Zeit geben, aber genau in dem Moment hätte ich Angst, nicht wieder reinzukommen."

Jana Kellermann, Moritz Leo und Johannes Hanf leben seit knapp 20 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Leben davor fand in der DDR statt.

Wie sehen sie dieses Land ihrer Kindheit und frühen Jugend zwischen ostalgischer Verklärung oder Interpretation als Unrechtsstaat? Wo finden sich die drei heute wieder?

Jana Kellermann: "Auf keinen Fall in der Ostalgie-Ecke, obwohl ich natürlich nicht umhin komme, zu sagen, ich hatte eine schöne Kindheit. Aber, die hatte ich wahrscheinlich auch nur, weil mir nicht bewusst war, wie dieser Staat funktioniert. Und dass dieser Staat Menschen unterdrückt, einsperrt, bis zu nem bestimmten Zeitpunkt ja auch ermordet hat, dass er denken verordnet hat, dass die Wirtschaft an allen Ecken und Enden in Schwierigkeiten war und womöglich, wenn der Druck von der Straße nicht so groß oder nicht zu diesem Zeitpunkt gekommen wäre, von der anderen Seite dafür gesorgt hätte, dass das System zusammenbricht. Der Staat war ein Unrechtsstaat. Und er hat vielen, vielen Menschen Unrecht getan."

Moritz Leo: "Und ich glaube, viele DDR-Bürger gefallen sich in dieser Situation: Das war doch alles so schön damals, als wir uns alle noch so lieb hatten. Ja, da gab’s diese komische DDR und dieses komische System, aber das war doch alles nicht so schlimm. (...) Und das war alles so schön, der Alkohol war billig und das Essen auch. Und wir mussten uns über nichts Gedanken machen. Das war ja für viele auch total paradiesisch."

Johannes Hanf: "Ich kann eigentlich (...) für mich weder sagen, dass ich in Ostalgie verfallen bin noch habe ich direkt diesen Unrechtsstaat mit seinen Auswirkungen gespürt. Ich kenne das sicherlich in dem Umfeld und auch das was (...) meinen Eltern passiert ist. Es ist sicher so, dass die DDR ganz klar n Staat war, der diktatorisch agiert hat, ne."

Jana Kellermann: "Natürlich kann man nicht sagen, dass alle Menschen, die in der DDR gelebt haben, ‚Unrechtsmenschen’ sind. Der Staat, das System und der Apparat, der Parteiapparat, das alles sind sehr, sehr problematische Aspekte, und das sind genau die Unrechtsaspekte. Aber, man darf nicht die Menschen abwerten, die in der DDR gelebt haben. Da muss man unterscheiden und das ist, glaube ich, ne Gradwanderung."

Im Jahr 2005 tritt Jana Kellermann Bündnis 90/Die Grünen bei und engagiert sich dort vor allem für Menschenrechte und den konsequenten Atomausstieg. Anders als Johannes, Moritz und die große Mehrheit der Ostdeutschen legt sie ihre lang gehegte Skepsis gegenüber einer organisierten politischen Partizipation ab – die sie mit ihren negativen Erfahrungen der Vereinnahmung in der DDR begründete.

Bei der Beurteilung der gesellschaftlichen Grundwerte in der Bundesrepublik ist man sich dagegen fast einig.

Moritz Leo: "Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Gewaltenteilung sind für mich indiskutable Grundsätze."

Jana Kellermann: "Das ist der Rahmen, in dem ich mich bewege, (...) die Grundlage meines Selbstverständnisses und des Umgangs mit anderen Menschen, also eigentlich nicht mehr wegzudenken."

Johannes Hanf: "Heute hat man zu funktionieren, in ner gewissen Form. Und entweder man macht da mit (...). Ich habe ja das Glück, da mitmachen zu können (lachend), und ganz gut damit auch zu leben. Aber wenn man eben nicht mitmacht, fällt man auch sehr schnell hinten runter. (...) Also, das finde ich total unbefriedigend als Gesellschaft."

Ebenso kritisch wie mit der DDR gehen Moritz, Jana und Johannes mit der gegenwärtigen Beschaffenheit der Bundesrepublik ins Gericht. Selbstbewusst meinen sie, aus ihrer eigenen Erfahrung mit zwei verschiedenen gesellschaftlichen Systemen, dafür eine spezifische Kompetenz erworben zu haben.

Moritz Leo: "Das ist ne Frage, die ich mir immer wieder stelle und die man sich bei jeder Wahl neu stellt: Was wählt man eigentlich? Und ich komme immer wieder zu der Überzeugung, (...) dass ich das Gefühl habe, dass dieses Land viel zu verkrustete Strukturen hat, zu verkrustete Mitbestimmungsstrukturen, die dazu führen, dass eigentlich Veränderungen kaum noch möglich sind."

Jana Kellermann: "Die Friedliche Revolution, die hier gefeiert wird, betrifft ja eigentlich – wenn wir ehrlich sind – nur n sehr geringen Teil. Die Bürgerrechtler, die sicherlich n großen Anteil haben, aber in der Masse ja völlig untergegangen sind, die jetzt auf den Veranstaltungen eben das Thema Unrechtsstaat oder nicht diskutieren, spiegeln doch nicht das wieder, was die vielen Menschen, die ihr ganz normales Leben in der DDR gelebt haben, empfinden. Und ich glaube, für eben diese ganz vielen normalen Menschen gibt’s keine Angebote, oder zumindest nur ganz wenig."

70 Prozent dieser Generation betrachten sich heute als Bürgerinnen und Bürger mit quasi zwei "Staatsbürgerschaften": Die zwar abgelaufene, aber doch nachwirkende der DDR und die gültige der Bundesrepublik Deutschland.

Johannes Hanf: "Man kann, wenn man sich für etwas einsetzt, das auch erreichen. Und dieses Gefühl, das hat mich eigentlich geprägt bis heute. Dass man sagt, mit ner eigenen Motivation schafft man eigentlich sehr, sehr viel. Man muss auf sich selber dann auch vertrauen mit der Kraft, ne."

Moritz Leo: "Meine Neugier an anderen Ländern, andere Kulturen, andere Sprachen kennen zu lernen ist enorm groß. Und ich glaube, das kommt auch n bisschen aus dieser Wende-Erfahrung heraus. Dieses Ausbrechen aus diesem Eingeschlossensein und auch die Möglichkeit haben, alles zu erobern und zu erfahren."

Jana Kellermann: "Ich lebe in nem System, das ich kritisieren kann. Ich bin nicht glücklich und zufrieden, mit dem was heute ist. Aber ich habe die Möglichkeit, es zu verändern. Und in der DDR wäre ich allein dafür es auszusprechen, dass es veränderungswürdige Zustände gibt, womöglich eingesperrt worden. Ich möchte nicht tauschen."