Danielle Allen: "Politische Gleichheit"

Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft

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Das Buchcover "Politische Gleichheit" von Danielle Allen vor einem grafischen Hintergrund
Danielle Allen legt den Finger in die Wunde der liberalen Gerechtigkeitstheorien. © Suhrkamp Verlag / Deutschlandradio
Von Ingo Arend · 20.08.2020
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Die Harvard-Professorin Danielle Allen bricht mit der bislang in den USA dominanten Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. In ihrem Essay über politische Gleichheit legt sie trotz einer gewissen Vagheit ein Fundament für künftige Debatten.
Wann ist eine Gesellschaft gerecht? Wenn ihre Ungleichheiten so ausgeglichen werden, dass niemand zu sehr benachteiligt wird? Oder wenn alle Gesellschaftsmitglieder in der Lage sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen?
Mit ihrem Buch "Politische Gleichheit" will die amerikanische Politologin Danielle Allen das "egalitäre Kernversprechen der Demokratie" wiederbeleben. Die 1971 geborene Harvard-Professorin plädiert in ihrer Schrift dafür, "die egalitäre Ermächtigung aller Mitglieder des politischen Gemeinwesens sicherzustellen".

Eine philosophische Linkswende

In europäischen Ohren klingt das sozialdemokratisch. Allens Ansatz, die politische Gleichheit in den Mittelpunkt aller Bemühungen, eine "wohlgeordnete Gesellschaft" zu schaffen, zu stellen, bedeutet gleichwohl eine Linkswende in der Politischen Philosophie, zumindest in den USA.
Scharf grenzt sich die Wissenschaftlerin nämlich von ihrem ehemaligen Harvard-Kollegen John Rawls ab. Dem berühmten Autor des Grundlagenwerks "Eine Theorie der Gerechtigkeit" (1971) wirft sie vor, das Prinzip der politischen Gleichheit sekundär zu behandeln.
Nach Rawls sogenanntem "Differenzprinzip" sind Ungleichheiten in einer Gesellschaft so lange legitim, wie Chancengleichheit erhalten bleibt und die Ungleichheiten den sozial am schlechtesten Gestellten den relativ größten Vorteil bringen. Das Primat des Wachstums, das für Allen aus diesem Ansatz folgt, verkürzt ihr zufolge die Idee von Gerechtigkeit auf eine des ökonomischen Umverteilens.
Allen dagegen setzt auf "Differenz ohne Herrschaft". Ihre Alternativformel stützt sie auf fünf Prinzipen: das der Herrschaftsfreiheit, des gleichberechtigten Zugangs zum Regierungsapparat, auf den "epistemischen Egalitarismus", also den gleichberechtigten Zugang zum kollektiven Wissen, auf das Prinzip der Gegenseitigkeit und die "Miteigentümerschaft" an den politischen Institutionen.

Auch bei Allen gibt es Eigentum

Die darauf gegründete "aktive Bürgerschaft" will Allen auch Migrantinnen zugestehen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass eine Frau mit gemischtethnischem Hintergrund den Finger in die Wunde der liberalen Gerechtigkeitstheorien legt. So wie sie bislang überwiegend von weißen Männern wie Rawls formuliert wurden, spielen dort Kategorien wie Geschlecht und Migration kaum eine Rolle.
Das Problem von Allens Theorie ist nur, dass die konkreten Beispiele für ihre Prinzipien vage bleiben. Die Harvard-Wissenschaftlerin stört sich an dem - in Rawls Theorie impliziten - Klassenkompromiss, beharrt aber auf einer eigentumsgestützten Wirtschaftsordnung.
Sie räumt ein, dass auch in ihrem Gesellschaftsmodell soziale Ungleichheiten entstehen. Und bleibt dann den Beweis schuldig, dass die "vernetzte Gesellschaft" der "Assoziationsökologie", die die Menschen befähige, Brücken zwischen den Schichten zu bauen, am Ende wirklich zu der "egalitären Ökonomie" führt, die sie anstrebt.
Auch wenn Konkretisierungen fehlen: das Buch ist wichtig. Denn mit ihrem scharfsinnigen Essay hat Allen zumindest die Grundlagen formuliert, an denen sich eine neue Politik der Gerechtigkeit orientieren muss.

Danielle Allen: Politische Gleichheit. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2017
Aus dem Amerikanischen von Christine Pries
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
240 Seiten, 28 Euro

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