Daniel Pittet: "Pater, ich vergebe Euch!"

Missbrauch und der Kampf um Aufarbeitung

Buchcover "Pater, ich vergebe Euch!" vor dem Hintergrund eines Kreuzgangs
Buchcover "Pater, ich vergebe Euch!" vor dem Hintergrund eines Kreuzgangs © imago / Herder-Verlag-Verlag
Von Anne Francoise Weber · 23.12.2017
Manche wussten es gar, viele ahnten es, aber keiner hat etwas gesagt oder ist eingeschritten: Daniel Pittet berichtet in "Pater, ich vergebe Euch!" über den Missbrauch an ihm. Schonungslos ist sein Text und laut sein Appell: Seht nicht weg!
Vier Jahre lang wurde der Schweizer Daniel Pittet als Junge von einem katholischen Ordenspriester regelmäßig vergewaltigt: rund 200 Mal. Sein Leben lang hat er unter dieser schrecklichen Erfahrung gelitten, jetzt hat er ein Buch geschrieben, in dem er seinen langen Leidensweg nachzeichnet, denn dieser Angriff hat ihn zutiefst erschüttert, und erst nach 18 Jahren Psychotherapie und einigen wichtigen Begegnungen war er fähig, sich damit in dieser Form auseinanderzusetzen. Er warnt seine Leser gleich zu Anfang:
"Manchmal werden meine Worte schonungslos sein, denn eine Vergewaltigung ist abstoßend, sie ist schmutzig. Nach einer Vergewaltigung fühlt man sich immer zutiefst beschmutzt. Es bleibt eine unauslöschliche Spur zurück. Für immer."
Doch Pittet berichtet nicht nur von dem, was ihm widerfahren ist und wie er es als 9- bis 13-jähriger empfunden hat. Er versucht auch einzuordnen, herauszuarbeiten, wie pädophile Täter vorgehen und welche Kinder besonders gefährdet sind. Bei ihm selbst waren die schwierigen Familienverhältnisse – ein hoch aggressiver Vater, der die Familie früh verließ, eine Mutter, die an schweren psychischen Problemen litt und die fünf Kinder in wechselnde Pflegefamilien geben musste, materielle Armut und Abhängigkeit von der Großzügigkeit anderer – Einfallstor für den pädophilen, "sexsüchtigen" Pater Joël Allaz, der verstand, sein Opfer mit Geschenken an sich zu binden und sehr viel Zeit mit ihm zu verbringen, ohne Verdacht zu erregen.

Die Tante hat nicht versucht, die Sache anzuzeigen

Deutlich wird, dass mehrere Menschen im Umfeld des Paters und des Kindes wussten oder ahnten, was vor sich ging, ohne dem Einhalt zu gebieten. Und selbst die Großtante, die dem Kind schließlich zu dessen großer Erleichterung den Umgang mit Pater Allaz verbot, ging nicht besonders weit:
"Aus der Rückschau betrachtet ist mir klar geworden, dass auch meine Großtante letztlich zur Kirche gehalten hat, in dem Sinne, dass sie nie über das sprach, was sie sehr wohl verstanden hatte. Niemals hat sie mich direkt gefragt, ob Joël Allaz mich missbraucht hat. Es ging um das Nicht-Gesagte, das aber jeder verstehen musste. Sie hat nie wieder ein Wort über diesen Moment in meinem Leben verloren. Sie tat, was sie tun musste, damit es aufhört, aber sie hat nicht versucht, die Sache anzuzeigen."
Die Anzeige ging Pittet erst viele Jahre später an – und musste erleben, dass Pater Allaz zunächst an eine Stelle in Frankreich versetzt wurde, wo er wieder Umgang mit Kindern und Jugendlichen hatte. Nur Pittets Hartnäckigkeit und der Unterstützung weniger Kirchenleute ist es zu verdanken, dass Allaz schließlich isoliert und in den Laienstand versetzt wurde.

Ein wichtiges Buch von einem beeindruckenden Menschen

Erstaunlich an Pittets Geschichte ist, dass er nicht nur seinen christlichen Glauben bewahrt hat, sondern sich weiterhin in der katholischen Kirche stark engagiert. Entscheidend auf seinem Weg zu sich selbst war der Aufenthalt im Kloster Einsiedeln, in das er für einen Ferienjob kam und wo er eine Zeitlang als Benediktiner-Bruder lebte:
"In der Atmosphäre von Einsiedeln habe ich angefangen, über mich selbst nachzudenken, mit der unaufhörlichen Hilfe der Mönche. Hier habe ich eine Sache gelernt: Man darf eine Erfahrung niemals verallgemeinern. Wenn ich aus dem Kloster komme, trage ich mein ganzes Vertrauen in die Kirche mit mir. Nur weil einige Priester schändliche Taten begangen haben, sind nicht alle verdorben. Meine Erfahrung gibt mir das Recht, das zu sagen."
So kommt Pittet schließlich, nach vielen Kämpfen auch um materielle Entschädigung dazu, seinem Peiniger zu vergeben: "Ihm zu vergeben hat es mir ermöglicht, die Ketten zu sprengen, die mich an ihn fesselten und die mich daran gehindert hätten, zu leben."
Gut, dass Papst Franziskus in seinem Vorwort der Bestürzung über solche Taten in seiner Kirche mehr Raum gibt als der Bewunderung für Pittets Fähigkeit zur Vergebung – denn, das macht das Buch deutlich, das wichtigste ist ein angemessener kirchlicher Umgang mit Opfern und Tätern.
Auch wenn den katholischen Aktivitäten des Autors viel Platz eingeräumt wird, an mancher Stelle die zeitliche Abfolge bisweilen etwas unklar bleibt und ein mangelndes Lektorat der Übersetzung einige sprachliche Fehler durchgehen ließ – dies ist ein wichtiges Buch, von einem beeindruckenden Menschen geschrieben.

Daniel Pittet: Pater, ich vergebe Euch! Missbraucht, aber nicht zerbrochen
Unter Mitarbeit von Micheline Repond, Übersetzung aus dem Französischen von Antje Peter
Herder-Verlag, 224 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema