Daniel F.E. Auber: Die Stumme von Portici

Revolutions-Funken einer Wortlosen

Auf einer Zeichnung wird eine Opernszene in Italien dargestellt, bei der sich eine junge Frau mit großer Geste zwischen bewaffneten Fischern verständlich macht und eine drohende Gefahr ankündigt.
Die Hauptperson, die nicht zu hören ist: Fenella, das stumme, italienische Fischermädchen warnt vor dem Heranziehen des Feindes, dem man sich erwähren möchte. © imago images / KHARBINE-TAPABOR
Moderation: Stefan Lang · 09.01.2021
Es ist die stumme Italienerin, die erst verführt und dann eingekerkert wird. Sie flieht und ihre Familie wehrt sich gegen den Täter, den spanischen Vizekönig. Ein Aufstand entlädt sich. Erst auf der Bühne und in Belgien um 1830 direkt nach einer Aufführung.
Es gibt wahrscheinlich kein anderes Werk in der über 400-jährigen Geschichte der Oper, das so unmittelbare politische Auswirkungen hatte wie "Die Stumme von Portici". Bereits ihre Fabel basiert auf einem historischen Vorgang: 1647 führte ein Fischer namens Tommaso Masaniello einen Aufstand der Bevölkerung Neapels gegen die spanischen Besatzer und deren Steuerpolitik an.
Bei Auber bzw. Autor Scribe wird die politische Motivation des Aufstands von einer unhistorischen Liebesgeschichte überblendet: Fenella, die stumme Schwester Masaniellos, wird von Alphonse, dem Sohn des Vizekönigs von Neapel, kurz vor dessen standesgemäßer Heirat mit Elvire verführt. Die junge Frau wird schließlich vom Vater des Täters, vom Vizekönig, ohne das Wissen seiner Sohnes Alphonses eingekerkert. Doch Fenella gelingt die Flucht. Als Masaniello von der Entehrung seiner Schwester erfährt, gibt er das von seinen Anhängern lange ersehnte Zeichen für den Aufstand.

Blinde Zensoren

Es war vermutlich gerade diese Überlagerung, die das Werk zum Sturmvogel der Juli-Revolution werden ließ. Der Zensur schien das Werk vergleichsweise unverdächtig, während, wie Goethe darlegte, "jeder in die leer gelassene [motivatorische] Stelle das hineintrage, was ihm selber in seinem Land nicht behage".
Wie sehr Auber und Scribe mit diesem Werk den Nerv ihrer Zeit, das Aufbegehren des "einfachen Volkes" gegen eine restaurative Gesellschaftsordnung getroffen hatten, wurde anlässlich seiner Brüsseler Erstaufführung in Gegenwart des niederländischen Königs am 25. August 1830 deutlich. Im stummen Fischermädchen Fenella glaubte das belgische Opernpublikum die eigene unterdrückte Nation verkörpert zu sehen.

Revolutionsklänge

Das Duett zwischen Masaniello und Pietro, das im Namen der heiligen Vaterlandsliebe zum Aufstand aufruft und dabei textlich die Marseillaise zitiert, elektrisierte das Opernpublikum so sehr, dass es aus dem Theater stürmte und den Justizpalast besetzte. Diese Aufführung wurde somit zum Ausgangspunkt für die belgische Revolution von 1830, die zur erneuten Unabhängigkeit des Landes von den Niederlanden führte.
Auf einem Sammelbild um 1900 ist die Szene im Opernhaus dargestellt, bei dem das Publikum die kämpferischen Gesten der Darsteller übernehmen und aufgesprungen sind.
So soll es 1830 gewesen sein: Die revolutionären Klänge springen aufs Brüsseler Publikum über - der niederländische Freiheitskampf begann.© imago images / KHARBINE-TAPABOR
Aufnahme vom Mai 2011 im Anhaltischen Theater Dessau
Daniel F.E. Auber:
Die Stumme von Portici – La Muette de Portici
nach Eugène Scribe

Alphonse - Oskar de la Torre
Masaniello - Diego Torre
Elvire - Angelina Ruzzafante
Lorenzo - Angus Wood
Selva - Ulf Paulsen
Borella - Kostadin Arguirov
Pietro - Wiard Witholt
Hofdame - Anne Weinkauf
Ein Fischer - Stephen Biener
Fenella - Yuliya Gerbyna

Chor des Anhaltischen Theaters Dessau
Anhaltische Philharmonie
Leitung: Antony Hermus

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