Daniel Beer: "Das Totenhaus"

In Fußketten und kahlrasiert nach Sibirien

Russland: Gruppe von Deportierten und Gefangenen, in der Regel politische Gegner des Zarenregimes, in den sibirischen Lagern des 19. Jahrhunderts
Deportierte und Gefangene - in der Regel politische Gegner des Zarenregimes - in einem sibirischen Lager: Kaum Kraft für die Arbeit © imago stock&people; S. Fischer
Von Sabine Adler · 10.12.2018
Kriminelle und in Ungnade Gefallene schickte man in Russland früher nach Sibirien. In "Das Totenhaus" erzählt der Historiker Daniel Beer die Geschichte der Verbannungspolitik. Für zart besaitete Leser sind die Schilderungen schwer auszuhalten.
In Sibirien ist der Himmel hoch und der Zar weit weg. Trotzdem steht Sibirien nicht für ein Freiheitsversprechen, sondern zuerst für Verbannung, Zwangsarbeit, Kälte und Kerker, riesig und unentrinnbar. Anders als in Nordamerika war die Kolonialisierung Sibiriens nicht von Pioniergeist und Aufbruch geprägt, sondern von Strafe und Druck. In eben diesem Zwang lag der Kardinalfehler der zaristischen Siedlungspolitik, den der britische Historiker Daniel Beer auf den gut 600 Seiten eindrucksvoll herausarbeitet.
Bis zur Eroberung durch den Zaren Iwan den Schrecklichen im 16. Jahrhundert lebten in Sibirien nur 200.000 Menschen. Der Zar schloss die Landmasse an das russische Reich an, und machte Russland damit zum bis heute größten Flächenstaat der Erde.
Zuvor waren nomadische und halbnomadische Stämme durch den schier unendlichen Raum gezogen, der anderthalb Mal so groß wie Europa ist. Das russische Reich sicherte das neue Territorium vom Ural zum Pazifik und vom Polarkreis bis zur mongolischen Grenze zwar mit Wehrdörfern, doch in dem östlichen Gebiet fehlten die Menschen. Arbeiter, Bauern, Händler wurden dringend benötigt. Weil kaum jemand freiwillig in die unwirtliche Gegend zog, wurden die Menschen dorthin verbannt.

Entkräftet und demoralisiert

In Sibirien entledigte sich Russland seiner Kriminellen und die zaristische Justiz erfand immer neue Straftatbestände, um möglichst viele Häftlinge samt Familien ostwärts schicken zu können. Wenn jemand verbannt worden war, erkannte man das an seiner aufgeschlitzten Nase, dem zur Hälfte kahlrasierten Kopf und an den Fußketten.
Gewöhnlich mussten die Verurteilten und ihre Familien den Weg in die Verbannung zu Fuß zurückgelegen, was zwei, sogar drei Jahre dauern konnte. Am Ziel kamen die Häftlinge derart entkräftet und demoralisiert an, dass sie zur Arbeit kaum noch fähig waren.
Selbst Adlige wurden verbannt, wenngleich sie mildere Umstände erwarteten. Die Dekabristen, vor allem aber deren junge Ehefrauen, die ihren aufständischen Männern ostwärts folgten, wurden zu Ikonen der Anklage der unmenschlichen Zarenherrschaft. In Sibirien erlangten die jungen Offiziere, die 1825 dem russischen Herrscher den Eid verweigert hatten und deswegen bestraft wurden, Märtyrerstatus.

Entbehrungsreiches und rohes Dorfleben

Daniel Beer spielt mit dem Buch-Titel "Das Totenhaus" ganz bewusst auf den Roman von Fjodor Dostojewskij "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" an. Der Schriftsteller, der wegen Beteiligung an einer Revolte zum Tode verurteilt, dann aber in die Verbannung geschickt worden war, verbrachte seine vier Jahre Haft in Ketten. Er kehrte ernüchtert über viele seiner rohen, gereizten und grausamen Mitgefangenen, die vor allem tranken und keine Reue zeigten, aus Omsk zurück.
Material für die missglückte Eroberung der endlosen Weite fand der 45-jährige Autor Daniel Beer in Archiven des Innen- und Justizministeriums in Sankt Petersburg, Moskau, Irkutsk und Tobolsk. Wie entbehrungsreich und roh das Leben in den Dörfern und wenigen Städten Sibiriens zur Zarenzeit gewesen sein muss, geht auch aus Gerichtsprotokollen und Protestappellen von Gefangenen hervor, die bessere Bedingungen forderten oder um die Rückkehr aufs Festland baten, gemeint war der europäische Teil Russlands.

Beers plastische Schilderungen der Züchtigungen von Gefangenen sind für zart besaitete Leser mitunter schwer auszuhalten, aber die Lektüre lohnt sich. Gerade für diejenigen, die heute mit Unverständnis auf Russlands noch immer drakonischen Strafvollzug blicken, kann ein Blick auf die Geschichte des russischen Verbannungssystems lehrreich sein.

Daniel Beer: Das Totenhaus. Sibirisches Exil unter den Zaren
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2018
624 Seiten, 28 Euro

Mehr zum Thema