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Friederike Mayröckers "cahier"
Die Stimme eines fragilen Subjekts

"cahier" ist der zweite Band von Friederike Mayröckers Trilogie mit "Prosa-Texturen". Sie bewegt sich darin wunderbar leicht zwischen Poesie und Prosa.

Von Carola Wiemers | 18.12.2014
    "Entweder man schreibt, oder man geht vor die Hunde", lautet Friederike Mayröckers Credo. Angetrieben von einem Gefühl des "Gejagtseins" ist es für sie stets ein lustvoll-intellektuelles, aber auch "waghalsiges Unternehmen" aus dem anfänglichen Chaos einen poetischen Kosmos entstehen zu lassen.
    "Schon zwischen Zähneputzen und Frühstück 2 Notizbücher vollgekritzelt!"
    "Die Schränke nicht mehr betretbar, weil Türme von Schreibpapier, murmelnde Literatur in bunten Buchhüllen, den Zugang versperren."
    "Der Griffel liegt auf dem Notizblock steil nach oben wie der gespitzte Bleistift Wolkenkratzer in Frankfurt, vor dem ich den Hut zog."
    Indem Mayröcker in ihren Texten anschaulich macht, was sie antreibt, wie es in ihr denkt und fühlt, was sie sieht und riecht erhält der Leser Einblick in eine höchst spannende Poetologie.
    In "brütt oder Die seufzenden Gärten" von 1998 heißt es:
    "ich mag nicht, wenn jemand sagt, DU WIRST ES ZWISCHEN DEN ZEILEN LESEN. [...] das ist 1 übler, abgegriffener Spruch, der mich beinahe wütend macht, es ist NICHTS zwischen den Zeilen, 1 Spatium, 1 Leere - was hinein zu phantasieren ist, geht mich nichts an [...] Ich bin nicht dafür zu gewinnen, etwas in etwas hinein zu phantasieren, alles sei ausgesprochen, 1 Kuss sei 1 Kuss, 1 Schrei sei 1 Schrei."
    Szenarien lustvoller Verzettelung
    2013 erschien mit "études" der erste Band einer Trilogie. Es sind Prosa-Texturen, die Mayröcker als Proeme bezeichnet, da sie sich - wie die Prosagedichte des von ihr verehrten Dichters Francis Ponge - wunderbar leicht zwischen Poesie und Prosa bewegen.
    "études" ist ein Motto von Jean Paul, dem Meister der kreativen Abschweifung, vorangestellt. Seine Maxime: "ich hasse doch, sogar im Roman, alles Erzählen so sehr", gilt Mayröcker als Inspiration - wie auch Claude Lévi-Strauss' "wildes Denken", das bei ihr zu einer eigenwilligen, mitunter anarchisch anmutenden Collagetechnik führt. In Mayröckers Labyrinth inniger Zwiesprachen mit Dichtern, Künstlern und Komponisten taucht auch der Name des französischen Philosophen Jacques Derrida auf.
    Im zweiten Teil ihrer Trilogie mit dem Titel "cahier", der pünktlich zu ihrem 90. Geburtstag im Suhrkamp Verlag erscheint, ist er mit den Initialen JD stets anwesend.
    Mayröckers "Heftchen" enthält wiederum Prosa-Texturen, die zwischen dem 19. Dezember 2012 und dem 19. März 2014 entstanden sind. Sie geben Einblick in die einsame Schreibstatt der Autorin, künden vom unerschütterlichen Vertrauen in die Physiologie der Sprache, berichten von Verbal-Träumen, schmerz- und glückhaften Erinnerungen sowie von der Verzweiflung, bald nicht mehr schreiben zu können.
    In einer assoziativen Verkettung von Wahrnehmungen werden der Duft einer Blume, ein aufblitzender Lichtstrahl oder das sich Verkanten von Erinnerungen aus einer multiplen Perspektive mehrdimensional reflektiert. So entstehen Szenarien lustvoller Verzettelung und kraftvoller Improvisation, die bei aller Abschweifung präzise auf einen Punkt hin geschrieben sind:
    "halte nichts von »politischer Korrektheit« besonders im Zusammenhang mit sprachlichen Aspekten, nehme mir jeden Morgen vor, in die ALBERTINA zu gehen wo derzeit 1 umfangreiche Max-Ernst-Ausstellung ich meine bin schutzbefohlen. Nun ja war es der Duft der Hyazinthen oder der Mimosen der im Schreibkabinett sich ausbreitete"
    Mit Derridas Satz, "ich habe niemals gewusst, wie man eine Geschichte erzählt", knüpft Mayröcker nicht nur poetologisch an "études" an. Derridas faszinierendes wie umstrittenes Buch "Glas" - der Titel bedeutet "Totenglocke"beziehungsweise "Totengeläut" - liegt in "cahier" stets in Reichweite. Bereits 1974 entstanden, wurde es erst 2006 ins Deutsche übersetzt. Unorthodox konfrontiert Derrida darin Hegels Dialektik des absoluten Geistes mit dem Denken des Provokateurs Jean Genets.
    Mayröcker fasziniert das radikale Umsturzprinzip von "Glas", der - als ein Quellentext der Gender-Theorie - auch das transversale Begehren der Geschlechter thematisiert.
    Rückblickend auf die eigene Existenz als schreibende Frau, zieht sie aus diesem Denken erstaunliche Schlüsse.
    Zugleich beunruhigt Derridas Kompromisslosigkeit. Mayröckers Staunen über die befremdende Kühnheit begründet in "cahier" eine neue Geste der Sprach-Verstörung.
    "Man hat eine Art von VISION als Schreibender : via Harmonie etwa : hatte diese ÄSTCHEN VISION über Jahre hinweg, stürmen die Grünpflanzen der Sonne zu, 2 flammende Kerzen = Schmuckstücke der Wiese, nicht wahr, dies war die Ekstase und als ich um 4 Uhr morgens aufwachte blies es in meine Kammer und sah alles verschwommen da weinte ich weil große Angst mich ergriffen hatte und ich fürchtete mein Augenlicht"
    Es berührt, wie in "cahier" die Stimme eines fragilen, nahezu ungreifbaren Subjekts über seine schwache physische Konstitution und poetische Verwahrlosung spricht.
    "am Morgen ich meine ich entsinne mich = aus den Sinnen gefallen, sage ich, nämlich eine Ent-Sinnung, oder entsinne mich nicht was gestern geschehen"
    "bin DURCHGEKNALLT: lausche deinem Gesang, habe fast keine Zeit für die gewöhnlichen Dinge weil ich schreiben muss immerfort ... so scheine ich keinen Anteil zu nehmen an der realen Welt, nämlich weil ich innig verbunden und jederzeit auf der Suche nach der imaginären Welt der Poesie"
    Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit Ernst Jandl
    Angesichts der Vergänglichkeit verbirgt sich in diesen Gleichgewichtsstörungen Ohnmacht und Wut: während sich das Ich der Zerrüttung hingibt, "verglüht" im "Stubenwinkel" die Zeit.
    "cahier" wird von einem Weinen grundiert, das als Sprachgeste der Erregung und tiefer Trauer auch eine Hommage an Friedrich Hölderlin einschließt, der in seiner Dichtung das Trauern ähnlich tränenreich zelebriert. Im Gedicht "Tränen" heißt es: "Ihr weichen Tränen, / löschet das Augenlicht / Mir aber nicht ganz aus; / ein Gedächtnis doch, / Damit ich edel sterbe".
    Zugleich stiftet Mayröcker mit ihrer verbalen Tränen-"Prozession" ein Gedächtnis des Schmerzes über die erfahrenen Verluste, denn alles "was postum geschieht ist sinnlos". Unter den vielen Abschieden, die sich als Leitthema durch "cachier" ziehen, schmerzt einer besonders: die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit Ernst Jandl.
    "als wir auf dem Zentralfriedhof : brach in Tränen aus weil vergreist : und alsbald dort landen würde zwischen Vergissmeinnicht und Anemonen, nun ja als ich vor 13 Jahren ihn begrub liesz ich mich in sein Grab fallen mit einem Vergiszmeinnicht Sträuszchen in meiner Hand"
    Innig zu wünschen ist, dass sich Friederike Mayröcker auch künftig von einem Blütenduft, dem Aufblitzen einer Erinnerung oder von einer Schumann-Musik anfeuern lässt. Und dass es noch viele Mayröckersche "und so weiter" geben wird.
    "lieber Freund,
    die weiszen Lilien die du mir zur Tür gelegt hast, sind
    eine grosze Lust mein Schreibzimmer voll Glanz und
    Duft : das wird mich anfeuern zu schreiben - sonst geht
    es mir gut, ich schreibe fast nur noch Gedichte. Bei mir
    um die Ecke ist gerade der Flieder aufgebrochen."
    Friederike Mayröcker: cahier. Suhrkamp Verlag. 192 Seiten. 19,95 Euro.