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Daniel Bogner
Ein neuer Begriff der Menschenrechte

Die Definition der Menschenrechte ließe sich schlicht mit dem Verweis auf internationale Konventionen beantworten. Aber offensichtlich eben nur schlicht: Daniel Bogner, Dozent für Sozialethik und Moraltheologie in Luxemburg, möchte den Begriff deshalb um das Politische erweitern.

Von Rainer Kühn | 04.08.2014
    Ein Videograb eines Films des Shaam News Network auf Youtube zeigt syrische Soldaten die einen Mann in Homs abführen.
    Foltergefängnis in Syrien: Wie definiert man Menschenrechte? ( picture alliance / dpa / SHAAM NEWS NETWORK/HANDOUT)
    Für den Moraltheologen Daniel Bogner steht fest: Menschenrechte sind derzeit ein "weltweites Megathema".
    "Nach dem Wegfall bisheriger Leitideologien füllen die Menschenrechte eine Leerstelle – zumindest erhoffen sich viele dies und sorgen für eine bis dahin ungekannte Konjunktur gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen, die entlang menschenrechtlicher Kriterien geführt werden."
    Wer sich inmitten einer solchen publizistischen Flutwelle zu Wort meldet, sollte etwas Besonderes oder eine neue Perspektive zu bieten haben. Und vorweg gesagt: Daniel Bogner hat beides. Für ihn ist die derzeitige "Rede" über das Thema defizitär. Denn wenn etwa von Historikern nur die wechselvolle geschichtliche Entwicklung der Menschenrechte nachgezeichnet werde, erschienen diese oft als ein Zufallsprodukt ihrer kontingenten Entstehungsbedingungen, was gegen ihre universelle Gültigkeit spreche. Lobbyisten der praktisch-politischen Menschenrechtsarbeit wiederum vermittelten oft den Eindruck, sie seien im Besitz eines klar definierten Begriffs der Menschenrechte, der lediglich noch von der Politik in die Realität umgesetzt werden müsse. Das hält der Autor für eine völlig überspannte Auffassung eines Menschenrechtsideals. Was aber dann?
    "Ziel dieses Buches ist es, über die Historisierung der Menschenrechte hinaus die Frage nach der Rolle der konkreten, historisch-sozialen Bedingungen für das Verständnis der Rechte zu stellen. Der Begriff des Politischen soll dabei als eine Kurzformel für die jeweils unterschiedlich ausfallende, kontextuell geformte Praxis der Menschenrechte verwendet werden."
    Soll heißen: Dem Politischen kommt bei der jeweiligen zeitgemäßen Form der Menschenrechte das entscheidende Gewicht zu. Daher auch der Titel "Das Recht des Politischen", den der Autor selbst als "etwas sperrig" und "dunkel" bezeichnet. Es geht also nicht darum, dass Bogner die Menschenrechte als die genuin politischen Rechte betrachtet, sondern dass
    "die Dimension des Politischen für die Wirklichkeit der Menschenrechte und damit auch für ihr theoretisches Verständnis unverzichtbar ist und 'ihr Recht hat'. Erst im Bereich des Politischen entscheidet sich, wie mit dem Anspruch der Menschenrechte umgegangen wird, welche Wirkung sie entfalten und wie die handelnden Akteure sich zum moralisch-rechtlichen Anspruch verhalten (...) Die Dimension des Politischen zeigt sich in historisch jeweils veränderten Wechselwirkungen zwischen den von Akteuren vertretenen Werten, dem Handeln der Akteure sowie den die Akteure einbindenden Institutionen."
    Für Bogner bedeutet das Politische also das Wechselspiel von Werten, Institutionen und Praktiken: Akteure haben in der Vergangenheit Erfahrungen gemacht, die sie normativ in der Gegenwart in ihrer Praxis prägen und auch in ihren Zukunftsvorstellungen mitbestimmen. Und die sie in Einklang mit den kollektiven Werten bringen können, die in den Institutionen verkörpert sind – oder nicht. Jedenfalls kommt es entscheidend auf die zu Werten geronnenen Erfahrungen der Einzelnen an, wenn es um politische Praxis geht. Um diese Position zu untermauern, hat der Autor einen simplen, aber genialen Einfall: Er betrachtet im zweiten Teil seiner Untersuchungen drei beispielhafte autobiografische Erfahrungsberichte in Bezug auf die in ihnen aufscheinende Praxis. Alle drei Werke stammen aus den Jahren 2001/2002 und behandeln die jeweiligen Verstrickungen der Protagonisten in den Algerienkrieg, den Frankreich von 1954 bis 1962 gegen seine afrikanische Kolonie führte. Und zwar einmal aus der Sicht eines "affirmativen Militärs", also eines Geheimdienstlers, der jedes Mittel zur Erlangung von Informationen einsetzte; einmal aus der Sicht eines "selbstkritischen Militärs", der die Operationen in Algerien ablehnte oder verabscheute; und einmal aus der Sicht eines Folteropfers.
    Autobiografische Zeugnisse als Ressonanzraum für die Menschenrechte
    "Die in autobiografischen Zeugnissen niedergelegten Erfahrungen mit dem Algerienkrieg veranschaulichen auf je unterschiedliche Weise eine Praxis, die man das eine Mal als ein Unterlaufen, das andere Mal als eine Überschreitung eines in ihr enthaltenen Ideals der Menschenrechte ausdeuten kann. Im Fall des militärischen Folterers sieht diese Praxis anders aus als beim republikanischen Regimentssoldaten und nochmals ganz anders stellt sich eine Praxis unter dem Anspruch der Menschenrechte im Fall eines algerischstämmigen Folteropfers dar."
    Kurz gesagt: Der affirmative Folterer hat keine Probleme mit seiner Praxis und den in den französischen Institutionen verkörperten Werten der Menschenrechtsnation. Der selbstkritische Militär bekundet seine Nöte und verzweifelt am Widerspruch zwischen den bekundeten Menschenrechtsidealen und der Kriegsrealität. Und das algerische Folteropfer hält zwar den Institutionen ihr Versagen vor, glaubt aber daran, dass die einzelnen in ihren Praktiken die Menschenrechte verteidigen. In seinem Fazit resümiert Bogner:
    "Alle Versuche, die autobiografischen Zeugnisse (... ) zum Sprechen zu bringen, dienten dazu, einen Resonanzraum für den Menschenrechtsanspruch zu schaffen, der diesem erst Körper und Stimme gibt."
    Abschließend fragt sich Bogner, wie denn ein Staat aussehen müsste, der solch einen Resonanzraum für Menschenrechte bietet. In einer für den theoretisch ungeschulten Leser kaum nachvollziehbaren Argumentation anhand der Theoretiker Paul Ricoeur, Sigmund Freud und Cornelius Castoriadis kommt Bogner zu dem Schluss:
    "Im Interesse des Gemeinwesens liegt es, für garantierte, das heißt institutionell gesicherte Orte und Wege vorzusorgen, an denen vielfältige Erfahrungsstimmen zu Wort kommen können und gehört werden müssen, wenn es um gemeinschaftlich-gesellschaftliche Verständigungsprozesse zu Fragen kollektiver Identität und Orientierung geht."
    Trotz dieses theoretischen Overkills gegen Ende: Das Buch ist hervorragend in Form und Inhalt und bietet einige geradezu grandiose Überlegungen. Bogner entwickelt ein sogenanntes Paradigma, also ein Leitbild, das viele weitere Überlegungen und Forschungen zum Thema Menschenrechte zu orientieren und anzuleiten vermag. Diese könnten dann auch etwa den Bezug zum Thema Macht oder zu Guantanamo herstellen. Und neuere Literatur einbeziehen.
    Daniel Bogner: "Das Recht des Politischen. Ein neuer Begriff der Menschenrechte", Transcript Verlag, 332 Seiten, Preis: 34,99 Euro, ISBN: 978-3-837-62605-6