Dammbruch in Brasilien

Unser Wohlstand, euer Schlamm

30:03 Minuten
Anwohner schauen sich die Zerstörungen an nach dem Dammbruch in der Eisenerzmine in Brumadinho im Januar 2019.
Anwohner schauen sich die Zerstörungen nach dem Dammbruch in Brumadinho an. © imago images/Xinhua/AGENCIA ESTADO
Von Philipp Lemmerich · 26.01.2021
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2019 brach der Rückhaltedamm einer Mine in Brasilien, 272 Menschen starben. Deutschland bezieht die Hälfte seines Erzes von dort, eine Tochter des TÜV Süd hatte den Damm zuvor für stabil erklärt. Wer in der Lieferkette ist also wofür verantwortlich?
"Ich hörte, dass der Damm einer Mine von Vale gebrochen sei. Ich wusste erst nicht, welcher Damm, aber ich habe mir schon etwas Sorgen um meinen Vater gemacht, er war zu der Zeit gerade auf Arbeit."
Vor genau zwei Jahren, am 25. Januar 2019, kommt Marcela Rodrigues, damals 25 Jahre alt, gerade von der Arbeit zurück, als sie von einem Unglück in einer nahe gelegenen Eisenerzmine erfährt.
"Ich schickte ihm eine Nachricht. Er war um 11.15 Uhr zum letzten Mal online. Die Nachricht kam nicht an. Ich versuchte, ihn anzurufen, kam aber nicht durch. Da machte ich mir dann schon Sorgen. Es dauerte drei oder vier Tage, bis mir wirklich klar wurde, dass mein Vater nicht wieder lebendig nach Hause kommen würde."
Um 12.28 Uhr bricht der Damm des Rückhaltebeckens einer Eisenerzmine oberhalb des 40.000-Einwohner-Städtchens Brumadinho im Bundesstaat Minas Gerais, Brasilien. Es gibt keine Sirene, kein Alarmsignal.

Brasilien ist eines der größten Förderländer von Eisenerz. Zehntausende Menschen leben von den Minen. Doch nun wurde die Bergbauregion tief ins Herz getroffen.
"Im Süden Brasiliens werden nach dem Bruch eines Damms etwa 200 Menschen vermisst. Schlammmassen hatten sich ins Tal ergossen, Einsatzkräfte versuchen, Überlebende zu retten. Zahlreiche Häuser wurden verschüttet. Der Damm gehört einem großen brasilianischen Bergbaukonzern."

Wenige Tage später gehen die Bilder einer Überwachungskamera um die Welt: der Staudamm, ein 700 Meter breiter Koloss. Innerhalb von Sekunden fällt er in sich zusammen. Eine Lawine aus rotem Schlamm rast ins Tal hinab. Schnitt. Zweite Überwachungskamera. Sie ist auf einen Förderkran gerichtet. Von links schiebt sich eine zähe Flüssigkeit ins Bild, es sieht aus wie glühendes Magma. Am rechten Rand des Bildes ein Auto, das kehrtmacht. Einige LKWs, die überspült werden. Bilder wie in einer Science-Fiction-Dystopie.
272 Menschen sterben. Begraben unter Tausenden Tonnen Schlamm. Unter ihnen auch Nelson Rodrigues, der Vater von Marcela Rodrigues. Am 17. Februar 2019, drei Wochen nach der Katastrophe, wird er gefunden.
"Wir erhielten einen Anruf. Sie hatten seinen Schädel und einen Arm gefunden. Der Arm hatte ein Tattoo, so erkannten wir ihn."
Rückhaltebecken werden überall dort errichtet, wo Eisenerz extrahiert wird. Um es aus dem Gestein zu lösen, wird Wasser eingesetzt, übrig bleibt giftiger Schlamm. In Brasilien gibt es unzählige solcher Becken.
Mit einer Katastrophe solchen Ausmaßes hatte aber fast niemand gerechnet.
"Als sie den Spind meines Vaters öffneten, fanden sie in seinem Rucksack eine Broschüre zum Thema Staudammsicherheit. Der Protagonist war eine Comicfigur. Sie maßen dieser Gefahr, die sprichwörtlich über ihren Köpfen schwebte, keine Bedeutung bei. Wenn wir gewusst hätten, wie groß der Schaden sein würde, wir hätten uns doch für eine andere Art zu leben entschieden."

Vom deutschen TÜV abgenommen

Ein Grund für die trügerische Sicherheit, in der die Bewohner von Brumadinho sich wähnten, hängt auch mit einem deutschen Unternehmen zusammen. TÜV Süd. Der hatte den Unglücksdamm erst wenige Monate vor der Katastrophe als sicher zertifiziert. Ausgerechnet der TÜV, eine deutsche Vorzeigemarke, Garant für Sicherheit und Zuverlässigkeit.
Es gibt noch weitere Verbindungen nach Deutschland. Betrieben wurde der Unglücksdamm von dem brasilianischen Bergbaugunternehmen Vale. Thyssenkrupp, Deutschlands wichtigster Stahlproduzent, ist Großabnehmer bei Vale. Die Deutsche Bank vergibt Kredite. Die Allianz Global Corporate & Specialty, der Industrieversicherer der Allianz Gruppe, stellte die Haftpflichtversicherung für den geborstenen Damm.
Sind deutsche Unternehmen also mitverantwortlich dafür, dass Marcelas Vater sterben musste?

Ein fragwürdiger Geschäftspartner

"Die Situation war die, dass ich im Zug saß, auf der Fahrt von Hamburg nach Köln zurück."
Susanne Friess, Referentin für Bergbau beim katholischen Hilfswerk Misereor. Seit mehr als zehn Jahren beobachtet sie die Situation im brasilianischen Bergbau.
"Und von allen Seiten, als von Partnerorganisationen aus Brasilien die Nachricht über WhatsApp und über Social Media kam: Hier ist ein Damm gebrochen. Schon wieder ein Damm gebrochen."
Schon wieder. Im November 2015 ereignete sich in Mariana, nur 125 Kilometer von Brumadinho entfernt, ein fast deckungsgleiches Ereignis. 19 Menschen starben, weite Teile des Rio Doce, eines der artenreichsten Flüsse Brasiliens, wurden verseucht.
"Und als wir dann ja relativ schnell gesehen haben, auch diese wirklich unglaublich schockierenden Bilder im Internet, wie die Schlammwelle in Brumadinho losrollte und über die Kantine weggerollt ist und über eben die unten liegenden Häuser und klar wurde, es sind 270 Menschen gestorben. Ja, da war klar, es ist eine unglaubliche Katastrophe. Und dass das passieren konnte, obwohl eben nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt drei Jahre vorher ein Damm gebrochen war, das war ein totaler Schock und ist es bis heute."

Der Damm von Brumadinho gehörte zu Vale S.A., Brasiliens wichtigstem Bergbaukonzern. Vale ist ein Gigant, größter Produzent von Eisenerz weltweit und drittgrößtes Bergbauunternehmen überhaupt. 50 Milliarden Euro Börsenwert, 75.000 Mitarbeiter. Auch der Katastrophendamm von Mariana gehörte zum Vale-Imperium, als Teil des Joint Venture "Samarco". Zu den beiden Industrieunfällen kommen viele andere Vorwürfe: Vertreibung von Indigenen, Umweltverschmutzung, Spionage in sozialen Bewegungen.
"Wir argumentieren, dass aufgrund der schlechten menschenrechtlichen Performance von Vale alle Unternehmen, die Vale in ihrer Lieferkette haben, auch eine Mitverantwortung haben für das, was da passiert vor Ort. Es dürfte eigentlich schon seit vielen Jahren bekannt sein, dass es massive menschenrechtliche Vorwürfe gegen Vale gibt. Und nach dem Dammbruch in Mariana, das war sozusagen der Gongschlag, der für alle eigentlich hörbar gewesen sein muss. Und alle Unternehmen müssten eigentlich dann danach sagen: Von Vale kaufe ich kein Eisenerz mehr. Ich schaue mich nach anderen Lieferanten um."
Schlammlawine nach Bruch eines Staudamms im brasilianischen Mariana im November 2015.
Schlammlawine nach Bruch eines Staudamms im brasilianischen Mariana im November 2015.© imago images/Fotoarena/Dudu Macedo

Zweifelhafte Zertifikate

"Wenn in Deutschland immer gesagt wird, wir haben hier keine Bergbauunternehmen, dann ist das zwar an der Oberfläche richtig. Tatsächlich ist aber ja Deutschland sehr, sehr eng verknüpft mit dem ganzen Thema Bergbau."
Claudia Müller-Hoff vom European Center for Constitutional and Human Rights, kurz ECCHR, einer NGO mit Sitz in Berlin.
"Und diese Verantwortung, die auch in Deutschland liegt, sowohl wirtschaftlich als auch letztlich politisch, die versuchen wir aufzugreifen und über Gerichte, aber auch über die politische Ebene stärker zu betonen."
Gemeinsam mit ihren Kollegen von Misereor hat Claudia Müller-Hoff monatelang zum Fall Brumadinho recherchiert. Ihr Hauptaugenmerk gilt dabei der Rolle des TÜV Süd.
TÜV bedeutet Technischer Überwachungsverein. Doch anders als es die Herkunft seines Namens vermuten lässt, ist TÜV Süd eine weltweit operierende Aktiengesellschaft mit 2,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr. Die brasilianische Tochter des TÜV Süd erhielt Ende 2017 von Vale den Auftrag für die Prüfung etlicher Dämme. Auch der Unglücksdamm von Brumadinho war darunter. Drei Mal prüfte der Dienstleister den Damm, drei Mal stellte er eine positive Stabilitätserklärung aus.
"Was ist mit der Zertifizierung dieses Damms gewesen? Der Damm war nicht stabil und wurde als stabil zertifiziert. Irgendwer muss ja dafür verantwortlich sein."
Müller-Hoff stützt sich bei ihren Recherchen maßgeblich auf die Ermittlungen der brasilianischen Staatsanwaltschaft. Die hat mittlerweile Mordanklage gegen Mitarbeiter von Vale und TÜV Süd erhoben. Der Vorwurf: TÜV Süd habe wissentlich Messergebnisse gefälscht, weil Vale andernfalls die Zusammenarbeit und millionenschwere Beraterverträge gekündigt hätte.
In einer schriftlichen Stellungnahme widerspricht TÜV Süd.
"TÜV SÜD ist überzeugt, dass TÜV SÜD keine rechtliche Verantwortung für den Brumadinho-Dammbruch trägt. Auf der Grundlage der uns vorliegenden Informationen sind wir überzeugt, dass die abgegebene Stabilitätserklärung die damals geltenden brasilianischen Gesetze und Normen eingehalten hat. TÜV SÜD wird sich daher gegen die Vorwürfe verteidigen."
Claudia Müller-Hoff vom ECCHR sieht das anders. Für sie trägt TÜV Süd eine Mitverantwortung für die Katastrophe von Brumadinho. Gemeinsam mit Misereor hat sie Anzeige gegen TÜV Süd und einen deutschen Ingenieur erstattet. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt.
"Es wäre ein Präzedenzfall, der sich mit den transnationalen Wirtschaftsstrukturen mal genauer beschäftigt und insofern bahnbrechend, als es schon eine wichtige Frage ist: Gibt es auch eine indirekte Beteiligungsverantwortung? Es ist ja schon richtig, dass der Zertifizierer keine Macht darüber hat, was mit diesem Damm geschieht. Kann er sich nicht trotzdem mitschuldig machen? Was ist seine Beteiligung daran? Und darüber mal Klarheit zu bekommen, dass möglicherweise auch strafrechtlich oder ordnungsrechtlich dafür zu haften ist, auch wenn die deutschen Unternehmen immer meinen, wenn sie selber nicht vor Ort die Leute ausbeuten, dann sind sie völlig frei von jedem Vorwurf."

Die Rohstoff-Frage

"Das ist nicht besonders angenehm aber, wenn man es im Lauf der Jahre ein paar Jahre macht, dann wird man auch abgebrühter."
Christian Russau, Brasilienexperte und Autor. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Rolle deutscher Unternehmen in dem Land. Als Mitglied der "Kritischen Aktionäre" nimmt er regelmäßig an Aktionärsversammlungen großer deutscher Unternehmen teil.
"Aber ehrlich gesagt zu hoffen, dass wir durch unsere Redebeiträge irgendwie etwas Grundlegendes am Konzerngebaren ändern können, das glauben wir nicht. Dazu sind wir politisch zu schwach."

Deutschlands Wirtschaft ist ohne natürliche Ressourcen aus anderen Ländern nicht zu denken. Brasilien ist einer der wichtigsten Rohstofflieferanten. Knapp die Hälfte des deutschen Eisenerzbedarfs wird von Brasilien gedeckt. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch in deutschen Autos Erze aus Brumadinho stecken, ist hoch.
"Es ist aber nicht bekannt, genau aus welchen Minen. ThyssenKrupp und Salzgitter, Arcelor Mittal, die wissen recht genau, aus welchen Minen sie beziehen. Aber aus Vertraulichkeitsgründen und weil sie die Mitbewerber nicht in die Karten gucken lassen wollen, teilen sie das dann nicht mit."
"Sehr geehrte Damen und Herren, Thyssenkrupp Steel Europe ist derzeit Deutschlands größter Stahlhersteller…"
Auch wir fragen nach: Bezog ThyssenKrupp Eisenerz aus der Katastrophenmine von Brumadinho? Wie geht das Unternehmen mit einem Lieferanten wie Vale um? In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es:
"Details unseres Rohstoffeinkaufs möchten wir aus Wettbewerbsgründen nicht nennen. Der Erzbedarf eines Hüttenwerks unserer Größe liegt bei ungefähr 14 Mio. Tonnen pro Jahr. Im Zeitraum von 2015 bis 2019 war Vale einer unserer Hauptlieferanten."
Und weiter:
"Thyssenkrupp bündelt seine Anforderungen an nachhaltige Beziehungen zu seinen Lieferanten in einem eigenen Code of Conduct. Für unsere Lieferanten sind die Bedingungen des Code of Conduct verpflichtend. Als Folge unserer Risikoanalyse wurden in den Geschäftsjahren 2016/17 und 2017/18 insgesamt drei Standorte von Vale von einem externen Unternehmen einem Nachhaltigkeitsaudit unterzogen. Es gab hier im Rahmen der Audits keine nennenswerten Abweichungen. Die Feijão-Grube in Brumadinho war nicht Bestandteil der Risikoanalyse, da wir von dort keine Erzeugnisse beziehen."

Im konkreten Fall des Dammbruchs von Brumadinho war ThyssenKrupp also nicht beteiligt. Und doch stellt sich durch die enge Zusammenarbeit mit Vale die Frage nach einer moralischen Haftung. Zu einem Interview erklärt sich ThyssenKrupp nicht bereit. Der Konzern ist finanziell angeschlagen, der globale Wettbewerb ist hart. Gut vorstellbar, dass die Verhandlungsmacht gegenüber einem Branchengiganten wie Vale klein ist. Aus Mitarbeiterkreisen heißt es, an Vale komme man nicht vorbei, wenn man Rohstoffe aus Brasilien beziehen wolle.
Christian Russau lässt solche Argumente nicht gelten.
"Wir sind der Meinung, es gibt die menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten von deutschen Konzernen, die auf dem Weltmarkt ihre Rohstoffe einkaufen. Deswegen gibt es ja auch seit Jahren eine Initiative, die nennt sich Initiative Lieferkettengesetz. Die verlangt, dass es eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht der deutschen Konzerne gibt, die von der Mine bis zur Schmelze und im Rückweg auch über die Abnahme und Lieferung ihrer Produkte eine menschenrechtliche Mitverantwortung dafür tragen, wo ihre Rohstoffe herkommen und was mit ihren Produkten letztlich geschieht."
Zerstörungen einer Schlammlawine nach dem Dammbrauch in einer Eisenerzmine im brasilianischen Brumadinho.
Der Schlamm begrub nach Schätzungen etwa eine Fläche von 300 Fußballfeldern. © imago images/Agencia EFE/Yuri Edmundo
Mit einem Rettungshubschrauber wird versucht, noch Überlebende aus dem Schlamm in der zerstörten Eisenerzmine in Brumadinho zu borgen.
Mehr als 270 Menschen kamen bei dem Unglück in Brumadinho ums Leben.© picture alliance/dpa/AP/Leo Correa

Die Finanzwirtschaft

"Wir haben Facing Finance gegründet vor dem Hintergrund der Finanzkrise. Wir haben gesagt, dass es notwendig ist, dass die Finanzmärkte nachhaltiger werden, dass Geld nachhaltiger und verantwortungsvoller verwendet wird."
Thomas Küchenmeister, geschäftsführender Vorstand von Facing Finance, einer NGO mit Sitz in Berlin.
"Wer betreibt diese Minen und wer finanziert diese Minenbetreiber? Wir denken, dass wir da einen großen Hebel ansetzen können."
Küchenmeister will mit Banken und Finanzdienstleistern zusammenarbeiten, um indirekt Einfluss auszuüben auf Unternehmen wie Vale, den Betreiber des Dammes von Brumadinho. Denn Unternehmen brauchen viel Geld: Kredite, Darlehen, Investments. Ein großes Druckmittel, findet Küchenmeister.
"Wenn man Geschäftsmodelle austrocknet und diese sehr schädlichen Geschäftsmodelle nicht mehr mit Kapital versorgt, dann kann es zu diesen Unfällen langfristig auch nicht mehr kommen, weil einfach das Geschäft eingestellt werden muss oder die Unternehmen dazu gezwungen werden müssen, ihre Sicherheitsvorkehrungen hochzufahren."
Divestment heißt diese Strategie. In der Vergangenheit hat sie schon öfter zu Erfolgen geführt, vor allem in den USA. Doch sie setzt voraus, dass die Geldgeber kooperieren.

Auch die Deutsche Bank ist involviert

"Wir können zumindest für die Deutsche Bank sagen, dass sie nach wie vor Kredite an Vale vergeben haben. Sie sind Teil eines sogenannten Konsortialkredits, zusammen mit mehreren Banken. Aber sie sind dabei und hatten offensichtlich keine Bedenken, dieses Unternehmen mit frischem Kapital zu versorgen."
Auch die Deutsche Bank hält sich mit Auskünften zurück. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es:
"Die Untersuchungen zu den Hintergründen der beiden Dammbrüche dauern an und sind sehr komplex. In Zusammenarbeit mit unseren Risikoabteilungen sowie unseren Kollegen in der Region verfolgen wir die Entwicklungen der Untersuchungen sowie auch der Beseitigung der Schäden und der Entschädigung der Betroffenen. Ferner bemühen wir uns, unseren Einfluss geltend zu machen – soweit es der Umfang unserer Geschäftsbeziehung zulässt."
Für Thomas Küchenmeister von Facing Finance eine unbefriedigende Antwort. Er fordert mehr Engagement von den Finanzinstituten – und klare gesetzliche Regeln.
"Sie dürfen in Deutschland keine Streubomben herstellen. Sie dürfen aber in Streubombenhersteller investieren. Sie dürfen in Deutschland kein Geschäftsmodell betreiben, was von Kinderarbeit profitiert. Aber sie dürfen in Unternehmen investieren, die von Kinderarbeit profitieren. Da ist ein großer, großer Widerspruch drin im Augenblick in der Auslegung dieser Gesetze. Und da bedarf es einfach einer Klarheit."

Eine Gesellschaft, die Unschönes auslagert

"Man hat bestimmte Produktionen ausgelagert in die Kolonien, weil es dort die Rohstoffe gab, oder die billige in Anführungszeichen Arbeitskraft, die man vernutzen konnte, wie man wollte. Ob die Leute sterben wie die Fliegen oder nicht, war völlig egal."
München, Maxvorstadt, ein regnerischer Herbsttag. Die Flure des Instituts für Soziologie haben seit Monaten keine Studenten gesehen. Stephan Lessenich ist hier Professor.
"Die allermeisten, mit denen sie sprechen würden, würden sagen: Das war doch, keine Ahnung, 15-Hundert-Nochwas oder 18-Hundert-Nochwas. Was soll das für die heutigen Verhältnisse eigentlich aussagen? Wir sind seit dem Zweiten Weltkrieg eine erfolgreiche Exportnation. Wir haben unser Wirtschaftswunder mit unseren eigenen Händen hier geschaffen, und es hat auch mit Kolonialismus nichts mehr zu tun. Das ist halt weit gefehlt."
Seit Jahrhunderten bereicherten sich die Länder des globalen Nordens an denen des Südens, so Lessenichs These. Soziale, politische, ökologische Schäden würden einfach ausgelagert – bis heute. Länder wie Deutschland könnten sich dadurch Wohlstand und Sozialstaat leisten.

Vor vier Jahren veröffentlichte Lessenich ein Buch dazu. Sein Einstieg: eine Beschreibung des toten Flusses Rio Doce nach dem Dammbruch von Mariana.
Als 2019 dann der Damm in Brumadinho brach und 272 Menschen in den Tod riss, fühlte sich Lessenich bestätigt.
"Mein Hauptargument ist natürlich immer, dass wir im Grunde genau mit diesen Verhältnissen sehr gut leben. Realiter ist es so, dass die Verhältnisse, in denen wir hier wie selbstverständlich leben, mit Leichen gepflastert sind und eigentlich bis heute immer wieder darauf gesetzt wird, dass wir das, was wir an Leid und Elend produzieren, hauptsächlich anderswo bewältigen lassen."
Eigentlich wissen wir, was unser Lebensstil in anderen Ländern anrichtet. Doch selbst wenn wir nachhaltig zu leben versuchen, hat das seine Schattenseiten. Auch erneuerbare Energien und Elektromobilität brauchen Ressourcen. Lithium aus Kolumbien, Kupfer aus dem Regenwald von Ecuador – die zerstörerischen Geschichten gehen weiter.
"Ich habe Hunderte von Vorträgen zu diesem Thema gehalten, und die erste Frage ist immer: Ja, stimmt alles? Was können wir tun? Naja, politisch aktiv werden. Wenn alle Menschen, die hier das politische Bürgerrecht haben, auf die Straße gehen würden, ihre politischen Repräsentanten drangsalieren würden, sich organisieren würden in Gruppen, na dann sähe es hier anders aus. Wenn es nicht nur 500 oder tausend wären, sondern fünf Millionen oder zehn Millionen, dann würde hier aber der Kessel ganz schön Druck haben."
Nach der Katastrophe: Mitten in der Zerstörung sitzt eine vom Schlamm überzogene Kuh.
Nach der Katastrophe: Mitten in der Zerstörung sitzt eine vom Schlamm überzogene Kuh. © picture alliance/AP/Andre Penner

Das Gesetz

"Die Erfüllerquote liegt bei 22 Prozent, bei der ersten Befragung lag sie bei 18 Prozent. Dieser NAP-Monitoring-Prozess ist damit kläglich gescheitert."
Entwicklungsminister Gerd Müller, CSU, im Juli 2020, bei der Vorstellung der Ergebnisse des Nationalen Aktionsplans, kurz NAP. Der NAP ist eine freiwillige Selbstverpflichtung, mit der deutsche Unternehmen ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht in ihren Lieferketten gerecht werden sollen. Doch das Problem: Das Prinzip Freiwilligkeit funktioniert nicht.
3000 Unternehmen wurden vom Entwicklungsministerium angeschrieben, um den Nationalen Aktionsplan zu evaluieren. Nur etwa 20 Prozent der Unternehmen antworteten überhaupt erst auf das Schreiben. Davon erfüllen gerade einmal 22 Prozent die Vorgaben – in Selbsteinschätzung. Minister Müller wählt drastische Worte:
"Wir lagern Produktionsketten aus in Entwicklungsländer und unterlaufen Standards für unsere Produkte in unserer Wohlstandsgesellschaft, soziale und ökologische Standards, die bei uns selbstverständlich sind. Wir akzeptieren und zementieren damit die Ausbeutung von Mensch und Natur in Entwicklungsländern."
Scheitert die freiwillige Selbstverpflichtung, kommt ein Lieferkettengesetz, so sieht es der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vor. Entwicklungsminister Müller und Arbeitsminister Heil wollten deshalb noch im August 2020 mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs beginnen. Ein verpflichtendes Risikomanagement für Lieferketten sollte kommen, dazu Bußgelder und strafrechtliche Haftung bei Verstößen. Doch seit der Pressekonferenz im vergangenen Juli ist wenig passiert. Die CDU, allen voran Wirtschaftsminister Altmaier, stellt sich quer.

Befürchtete Nachteile für Unternehmen

Anruf bei Thomas Mayer, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Honorarprofessor an der Universität Witten/Herdecke. Er kennt die Vorbehalte aus der Wirtschaft gegen ein Lieferkettengesetz.
"Zunächst einmal ist es ja ein unheimlicher Bürokratieaufwand, der auf die Unternehmen zukäme. Und sie machen sie natürlich dann auch hier in Deutschland rechtlich angreifbar. Es wird also verdammt schwer für diese Unternehmen, überhaupt noch international ihre Zwischenprodukte, ihre Rohstoffe einzukaufen. Das heißt also letztendlich, wenn man sich das mal bis zum Ende durch überlegt, leidet dann der internationale Austausch."
Für Mayer ist die Lage klar: Würden deutsche Unternehmen mit Regularien überfrachtet, würden Produktionskosten teurer. Ungelernte Arbeitskräfte im globalen Süden würden schneller durch Automatisierung ersetzt. Und deutsche Unternehmen hätten im globalen Wettbewerb das Nachsehen gegenüber Unternehmen aus Ländern, die nicht auf Menschenrechte achten.
"Grundsätzlich halte ich die Forderung für angebracht, dass der brasilianische Staat darauf achten muss, dass die Rechtsvorschriften eingehalten werden. Und auch die Überwachung muss funktionieren. Und deshalb würde ich sagen: Das wäre eine wunderbare Aufgabe für unsere Bundesregierung mit dem brasilianischen Staat zu reden, dass dort die Rahmenbedingungen stimmen."
Julia Hartmann, Professorin für nachhaltiges Supply Chain Management der EBS Business School in Wiesbaden, widerspricht.
"Es gibt entsprechende Initiativen in anderen europäischen Ländern, auf EU-Ebene und auch in den USA. Und auch Länder wie China haben verstanden, dass sie nicht sämtliche ökonomischen Probleme auf dem Rücken ihrer Bevölkerung und auf dem Rücken der Umwelt austragen können.

Lange Zeit wenig Interesse für das Thema

Hartmann beschäftigt sich seit 15 Jahren mit dem Thema Lieferkettengesetz. Bis vor Kurzem habe das Thema niemanden interessiert, sagt sie. Aber seit ungefähr zwei Jahren habe sich der Wind gedreht. In der Initiative Lieferkettengesetz haben sich weit über 100 Organisationen zusammengeschlossen, darunter MISEREOR, Oxfam oder der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB. Mittlerweile unterstützen selbst einige Unternehmen das Vorhaben.
Und auch für Konsumentinnen und Konsumenten spielten ethische Überlegungen eine immer größere Rolle, so Hartmann.
"Und wir dürfen ja auch nicht vergessen: Das machen wir nicht, um den deutschen Unternehmen zu schaden. Sondern es geht darum, weltweit zu versuchen, wenigstens zu versuchen, eine Fairness herzustellen zwischen dem, was wir hier konsumieren und was woanders hergestellt wird.

Zurück in Brumadinho, Brasilien. Marcela Rodrigues, die bei dem Dammbruch im Januar 2019 ihren Vater verlor, kämpft noch immer für Gerechtigkeit. Sie hat schon vor der TÜV-Zentrale in München demonstriert und war bei einer Anhörung im Bundestag dabei. Dennoch zieht sie ein bitteres Fazit.
"Wir halten die Wirtschaft der entwickelten Länder mit unserem Blut am Laufen."
Hätte der Dammbruch von Brumadinho mit einem deutschen Lieferkettengesetz verhindert werden können? Wohl kaum. Aber es wäre ein Zeichen an die Opfer und Hinterbliebenen, dass ihre Forderungen in Deutschland gehört werden. Dass die Verantwortlichen auch hierzulande zur Rechenschaft gezogen werden können. Dass Menschenrechte etwas zählen.
Eine junge Frau mit langen lockigen Haaren schaut in die Kamera.
Marcela Rodrigues hat bei dem Unglück ihren Vater verloren und kämpft heute als Aktivistin weltweit für Gerechtigkeit. © Jessica de Almeida

Ein Damm vor der Haustür

"Als in Brumadinho der Damm brach, hatte ich den Fernseher an. Und ich dachte: Wir haben hier dasselbe Problem. Wenn es dort passiert, dann kann es hier auch passieren. Jeder hier macht sich Gedanken. Hier wohnen Leute, das Stadtzentrum ist direkt um die Ecke. Keiner schläft hier mehr ruhig. Es gibt niemanden, der keine Angst hat."
Lezio Domingos de Oliveira, 61, lebt in Congonhas in Brasilien, eineinhalb Autostunden von Brumadinho entfernt. Von seinem Ersparten kaufte er sich vor 20 Jahren ein Stück Land und baute sich ein kleines Haus darauf. Es sollte seine Altersvorsorge sein.
2006 stellte ihm die Bergbaufirma CSN einen Staudamm vor die Haustür. Einen Umzug kann sich Lézio nicht leisten.
"Man lernt, mit dem Risiko zu leben. Wenn morgen der Damm bricht, bin ich der Erste, der stirbt. Es gibt keine Lösung. Ich wohne 200 Meter entfernt, werde ich noch Zeit haben wegzulaufen? Und was ist, wenn ich schlafe? Ich werde nichts mehr tun können."
Der Damm vor Lézios Haustür ist 85 Meter hoch und umfasst sechs Mal so viel Abraum wie der Damm von Brumadinho. An seinem Fuß beginnt Congonhas, eine Stadt mit 50.000 Einwohnern. In Brasilien gelten mindestens 150 Staudämme als bruchgefährdet.
"Die Angst ist ständig da. Menschen reden nicht gerne über Ängste, um nicht schwach zu wirken. Aber im Innersten denkt hier jeder: Ich werde sterben."

Es sprachen: Bettina Kurth, Joachim Schönfeld, Gerhard Schröder
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Martin Hartwig
Mitarbeit: Jessica de Almeida

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