Dänische Künstlerin Madame Nielsen

Hinter rechtsextreme Fassaden blicken

Viele Menschen und Deutschlandfahnen sind zu sehen während einer rechten Demo in Chemnitz
Teilnehmer einer Demonstration von AfD und dem ausländerfeindlichen Bündnis Pegida, der sich auch Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz anschlossen © picture-alliance / dpa / Ralf Hirschberger
Madame Nielsen im Gespräch mit Frank Meyer · 16.11.2018
Sie schreibt Romane, singt Lieder und tanzt Ballett – doch Madame Nielsen ist der Welt nicht abgewandt. Sie versucht, hinter die Vorstellungen von Menschen zu gucken und ihr Wesen zu ergründen. Zuletzt traf sie Rechtsextreme und den AfD-Philosophen Marc Jongen.
Frank Meyer: Das Literaturhaus Berlin, das wird heute übernommen, übernommen von Madame Nielsen. Das ist eine dänische Autorin, Musikerin, Publizistin, Performance-Künstlerin. Sie wurde geboren als Claus Beck-Nielsen. Claus Beck-Nielsen war in den 90er-Jahren Mitglied der legendären Performance-Gruppe "The Wooster Group" in New York, der hat eine Zeit lang auch ohne Papiere auf der Straße gelebt und später begonnen, elegante Kleider zu tragen und sich zu verwandeln in Madame Nielsen. Und Madame Nielsen ist jetzt hier bei uns im Studio, seien Sie herzlich willkommen!
Madame Nielsen: Vielen Dank!
Meyer: Was haben Sie denn vor, wenn Sie jetzt das Berliner Literaturhaus übernehmen, in was für einen Ort wollen Sie das Haus verwandeln?
Madame Nielsen: In einen Unort vielleicht. Ich will ein bisschen Unordnung oder neue formale Ordnung schaffen. Es wird eine Ausstellung von meinem Lebenswerk oder vielleicht die vielen … Jeder Mensch hat ja viele Leben in sich, und ich habe viele Leben gehabt. Und es wird so eine große Ausstellung in dem ganzen Haus, und es wird eine Lesung aus meinem Roman "Der endlose Sommer", der hier so ein kleiner Erfolg geworden ist …

Madame Nielsen schreibt, singt und tanzt

Meyer: Genau, ist im Frühjahr hier erschienen.
Madame Nielsen: Ja, im Frühjahr. Und auch aus zwei anderen Romanen, die später bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen werden, und dann wird Sabin Tambrea aus den drei Büchern lesen, und ich werde mit Julia Encke darüber sprechen, über mein Werk. Und dann wird es sogar zwei – weil so viele Leute sich gemeldet haben – zwei Konzerte um Mitternacht mit meinem Duo "The Nielsen Sisters". Und dann werden wir sehen, ob es später auch … Vielleicht tanz ich auch irgendein Ballett später mal durchs ganze Haus.
Meyer: Das Programm ist so vielfältig wie Ihre verschiedenen Leben, wie Sie sagen, gewesen sind, und die verschiedenen Künste, die Sie auch ausprobiert haben. Wenn wir auf Ihren Roman schauen, wie gesagt, im Frühjahr erschienen, "Der endlose Sommer", hier bei uns im Verlag Kiepenheuer & Witsch, können Sie uns vielleicht ein bisschen einführen in diesen Zustand? Was für ein endloser Sommer ist das in dem Buch?
Madame Nielsen: Oh ja. Dieser Zustand ist eine … Ich glaube, dass jeder Mensch irgendwann in seinem Leben in so eine Möglichkeit eines endlosen Sommers kommt. Hier ist es eine Gruppe von meistens jüngeren Menschen, die sich zufälligerweise … Plötzlich sind sie zusammen in einem weißen Bauernhaus auf dem Lande, und dort beginnt irgendwann so ein Leben außerhalb der Zeit. Die sind immer noch jung, ihr Leben ist immer noch offen, und alles ist möglich. Und man lebt in diesem Moment des "alles ist möglich", und das ist so ein Rausch. Und es ist eine Liebesgeschichte auch darin, mit einer älteren Frau und einem ganz jungen Mann, Künstler aus Portugal. Die ganze Geschichte wird von einer Erzählerin, die in Paris sitzt, eine ältere Frau wie ich – ich bin vielleicht noch nicht so alt, aber … Dann hört man auch ab und zu das ganze Leben von jedem …

"So viel Leben wie möglich in einem Wurf kriegen"

Meyer: Jeder Figur.
Madame Nielsen: Ja.
Meyer: Und für diesen Zustand dieses endlosen Sommers, diesen Rausch auch – Sie haben da eine sehr eigene Sprache dafür gefunden. Was hatten Sie da im Sinn, was wollten Sie für eine Sprache finden für diesen Zustand?
Madame Nielsen: All die großen Schriftsteller haben ja ihre eigene Sprache. Vor allem der Satzbau ist für mich sehr wichtig. Ich versuche, mit jedem Satz, auch oft lange Sätze … so wie ein Lasso möchte ich gern so viel wie möglich aus dem menschlichen Leben in einem Wurf kriegen. Und das heißt, jeder Satz muss eine Überraschung sein und muss das Leben wunderlich machen, zum Wundern.
Meyer: Sie haben ja schon gesagt, die Erzählerin, die das Buch erzählt, ist einerseits in der Zeit, in der sie es erzählt, eine ältere Frau, sie wird aber eingeführt ganz am Anfang des Romans als der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß. Ist das auch ein Teil Ihrer Lebensgeschichte? Dazu gehört ja auch der Übergang zwischen geschlechtlichen Identitäten.
Madame Nielsen: Ja. Also ich glaube, man kann nur gute Bücher schreiben aus eigener Erfahrung. Es muss irgendwo, auch wenn es sehr viel Fiktion ist, aus irgendeiner Erfahrung, Lebenserfahrung kommen. Und deshalb gibt es natürlich bei jedem guten Schriftsteller, Schriftstellerin eine Überlagerung mit dem eigenen Leben, und so ist es auch bei mir.

"Ich will aus der Zeit wandern"

Meyer: In dieser Formulierung, der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß, da steckt ja so ein Übergang, so ein Fließen von einer Form in eine andere …
Madame Nielsen: Ja, und das ist eben diese Offenheit. Es interessieren mich diese Zwischenräume zwischen einem Zustand und einem anderen, wenn etwas noch nicht bestimmt geworden ist.
Meyer: Ich fand ja hochinteressant, dass Sie sich vor Kurzem auseinandergesetzt haben mit dem genau anderen Modell, mit Menschen, für die eine ganz fest bestimmte Identität, auch nationale Identität vor allem, sehr wichtig ist. Sie haben einen Text geschrieben für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", vor wenigen Tagen erst veröffentlicht, und da haben Sie sich auseinandergesetzt mit so Vorstellungen von einer deutschen Seele zum Beispiel oder einer dänischen Seele, also so nationalkonservative Konzepte. Andererseits schreiben Sie aber auch in gleichem Zusammenhang, Sie seien auch befremdet von der Vorstellung, ich zitiere das mal kurz, dass es nur Afroamerikanern zustehe, das historische Leid der Afroamerikaner zu schildern. Das ist ja eher so eine linke Idee der kulturellen Aneignung, dass man das niemanden wegnehmen dürfe. Ich hab das so verstanden, dass Sie von solchen identitären Konzepten sowohl auf der linken als auch auf der rechte Seite befremdet sind.
Madame Nielsen: Ja. Also ich gehöre zu keiner Gruppe, ich bin ich. Ich will am liebsten so ein bisschen aus der Zeit wandern und ab und zu die Zeit durchqueren, um diesen anderen Blick auf die Welt … Ich interessiere mich für die Menschen und für ihre Vorstellungen als so ein Wesen von draußen, und ich mag es gerne, die Menschen zu treffen und mit ihnen zu reden und vielleicht hinter dieser Wand oder diesen Kleidern von Vorstellungen durchzukommen in etwas anderes. Deshalb habe ich auch die Identitären getroffen und Marc Jongen, der Philosoph …

"Ich bin nicht Dänin, vielleicht Europäerin"

Meyer: Der AfD.
Madame Nielsen: … der AfD, um zu ergründen, nicht was für Angstvorstellungen sie hatten, aber was sind ihre Visionen, habe ich gefragt. Ich will nicht darüber reden, wer dumm ist oder wer …, diese ganz kleinen Auseinandersetzungen möchte ich nicht. Ich will diese Vision: Was ist es, worum geht es, dieses Wunschleben, der Wunschzustand.
Meyer: Wir haben ja bei uns eine große Diskussion darüber, ob man das überhaupt tun soll, mit Rechten reden, ihnen Raum geben für Vorstellungen, die dann bei ihnen eben auch rassistisch sind, nationalistisch sind. Sie finden das aber richtig, mit Rechten zu reden.
Madame Nielsen: Ich weiß nicht, worüber Sie reden. Ich rede gerne mit Menschen, ich treffe gerne alle möglichen Menschen, weil wenn wir aufhören, miteinander zu reden, dann entsteht diese Vorstellung von anderen Menschen, und die werden immer so monströs. Es ist natürlich nicht so einfach, aber ich möchte mich vor allem nicht in irgendeine feste Gruppe wie auch nicht in eine feste Identität … Sie haben gesagt, ich bin eine dänische Schriftstellerin, nein, aber ich bin nicht Dänin, ich bin vielleicht Europäerin, ich bin ein Mensch oder vielleicht ein Mensch. Das werden wir mal sehen, das werde ich ausprobieren. Und deshalb interessieren mich Menschen, die glauben – das eine oder das andere. Die Menschen, die in unserer Zeit, die eine beunruhigende Zeit ist, wo alles … Es gibt keinen Boden und alles fließt, und deshalb wollen alle Menschen zu irgendeiner Gruppe gehören, und zu einer authentischen Gruppe. Das ist das Eigentliche, die nationale Identität oder seine Herkunft oder seine Leiden – ich komme, stamme aus etwas, einer Gruppe, die früher unterdrückt war, oder Herrscher oder was auch immer.
Meyer: Madame Nielsen, heute Abend übernimmt sie das Literaturhaus Berlin.
Madame Nielsen: Und ich werde es nie freilassen.
Meyer: Die Aktion ist ausverkauft, Sie können aber zum Beispiel den jüngsten Roman von Madame Nielsen lesen, wie gesagt, "Der endlose Sommer", im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, in einer tollen Übersetzung von Hannes Langendörfer. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Madame Nielsen: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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