"Da kann ich nur noch den Kopf schütteln"

Moderation: Marie Sagenschneider |
Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth hat davor gewarnt, Flüchtlinge in den Irak abzuschieben. "Das ist keine konstruktive Unterstützung eines Wiederaufbaus, sondern absolut destruktiv", sagte Roth. Eine Abschiebung sei "absolut unverantwortlich".
Claudia Roth: Schönen guten Morgen!

Marie Sagenschneider: Sie haben gestern schon in Interviews beklagt, dass die Bundesregierung im Nordirak komplett abwesend ist. Was meinen Sie denn, wie sie dort vertreten sein sollte?

Roth: Also, ich muss Ihnen nun sagen, wir erleben hier eine stabile Sicherheitslage. Erbil, Suleymaniyah, das sind Millionenstädte, das sind lebendige Städte, und man sieht, wie der Wiederaufbau und auch die Demokratisierung schon vorangeschritten ist. Und ich muss Ihnen sagen, ich verstehe überhaupt nicht, warum die Bundesrepublik Deutschland ökonomisch, diplomatisch, kulturell oder politisch hier nicht anwesend ist.

Es gibt hier keine konsularische Vertretung zum Beispiel, obwohl hier sehr, sehr viele deutsche Staatsbürger sind, oder Menschen, die in Deutschland gelebt haben, zum Beispiel der Bürgermeister von Erbil, der ist aus Bonn, der ist deutscher Staatsbürger. In den Ministerien sind Deutsche. Also, es ist nicht nachvollziehbar, warum hier keine Vertretung ist. Wir sehen hier viele ausländische Firmen, chinesische, japanische, koreanische, wir sehen italienische Projekte, britische Projekte, aber wir sehen weit und breit keine deutschen Firmen, die die relativ stabile Situation hier in Kurdistan auch als Ausgangspunkt nehmen für Investitionen, für den Aufbau von, ja, von Infrastruktur hier, die dann ja auch auf den Gesamtirak sich auswirken kann.

Kulturell, wir waren in einer Zitadelle, ein wunderschöner Ort, einer der ältesten Orte auf der ganzen Welt, da hat Tschechien ein wunderbares Kulturhaus errichtet, das französische Kulturinstitut ist dort präsent. Abwesend ist die Bundesrepublik Deutschland, und das ist nicht nachvollziehbar, weil wir könnten eine richtige, eine entscheidende, eine große Rolle spielen, wenn es um die Stärkung der Menschenrechte geht, der Frauenrechte, das ist ohne jeden Zweifel ein Problem, wenn es um den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit geht, das ist auch ein Problem, wenn es auch darum geht, Verantwortung zu übernehmen für das, was Saddam Hussein gerade hier in dieser Region den Menschen angetan hat. Vor 19 Jahren gab es in Halabja einen Giftgasangriff mit über 5000 Toten, und es ist ganz schlimm, dass auch deutsche Firmen das Material für diese Waffen, für diese Bomben, an Saddam Hussein geliefert haben. Wir waren gestern da, in Halabja, die erste offizielle deutsche Delegation nach 19 Jahren. Ich muss Ihnen sagen, das hat mich richtig geschämt.

Sagenschneider: Das heißt, Frau Roth, Sie plädieren dafür, dass Deutschland jetzt in der Aufbauhilfe sich aktiv beteiligt, im Nordirak nur, oder auch in anderen Regionen? Oder eben im Nordirak, weil es da doch ein bisschen sicherer ist?

Roth: Also, ich glaube tatsächlich, dass dieses Kurdistan, wo von allen kurdischen Vertretern gesagt wird, dass sie es als Teil eines föderalen Iraks begreifen und sehen wollen, dass es richtig wäre, nicht immer Konflikten hinterherzureagieren, sondern dieses Kurdistan in seiner relativen Stabilität als Ausgangspunkt zu machen für eine Stabilisierung im Gesamtirak. Wenn ich sage, relative Stabilität, dann heißt das nicht, dass es keine Probleme mehr gibt. Es gibt Probleme bei der Ausbildung, bei der Arbeit, es gibt vor allem auch große Probleme, Sie haben es ja angesprochen, dass unendlich viele Menschen im Irak auf der Flucht sind, intern vertriebene Menschen, wir schätzen nach Gesprächen mit dem UNHCR, dass hier im Norden etwa 200.000 Menschen, Flüchtlinge, intern vertriebene Menschen sind, und da kann ich nur noch den Kopf schütteln und mich fragen, was um alles in der Welt treibt deutsche Innenpolitik an, wenn Innenminister wie der bayrische in den Irak abschieben wollen, Rückführungen machen wollen. Das ist nicht eine konstruktive Unterstützung eines Wiederaufbaus, sondern absolut destruktiv.

Sagenschneider: Aber der bayrische Innenminister sagt, er will die irakischen Flüchtlinge wenn denn abschieben, dann in die nördlichen Provinzen, und Sie haben gerade selbst gesagt, nun ja, auch Deutschland sollte dort hingehen um Aufbauhilfe zu leisten, das heißt, man könnte dort leben rein theoretisch.

Roth: Moment. Ich habe gesagt, relativ sicher, relativ stabil, aber es gibt unglaublich große Arbeitslosigkeit, viele junge Leute finden keine Arbeit, das destabilisiert ja auch wieder. In so eine Situation Menschen zurückzuschieben, in so eine Situation Menschen zurückzuschicken, die beispielsweise Kinder haben und in Kurdistan es aber überhaupt keine Möglichkeit gibt, dass diese Kinder auch in deutsche Schulen gehen, das ist doch unverantwortlich. Lassen wir doch diese Menschen hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland und helfen mit, dass Kurdistan sich stabilisieren kann als Ausgangspunkt beispielsweise mit dem kurdischen, irakischen Staatspräsidenten Talabani, den wir gestern getroffen haben, der eine große und wichtige Brückenfunktion spielt in Bagdad zwischen den Sunniten und den Schiiten. Aber in so eine Situation abzuschieben, wo hier sowieso schon, nur in Kurdistan, 200.000 Menschen sind, die versorgt werden müssen und der Druck ja eher wächst mit jedem Tag, wo es im Irak eben gewaltvoll zugeht, das muss ich Ihnen sagen, das ist absolut unverantwortlich.

Sagenschneider: Sie haben es gerade gesagt, Frau Roth, Sie haben gestern mit Staatspräsident Talabani gesprochen. Was wünscht er sich von Deutschland? Hat er irgendwas in dieser Richtung gesagt?

Roth: Ja, er sagt, wir waren doch immer so tief verbunden und eng verbunden mit den Deutschen, mit der Bundesrepublik Deutschland. Viele ehemalige Oppositionelle, die heute Minister sind oder Staatspräsident sind, die kennen Deutschland, sei es nun aus ihrer Zeit, als sie dort im Exil waren, die dort studiert haben, also, es ist richtig auffallend, sagt er. Und er sagt, er versteht es auch nicht, wie große, chinesische Unternehmen sehr wohl überlegen, wie man in dieser Region aktiv werden kann, wenn es aktive und diplomatische Unterstützung gibt von den unterschiedlichen Botschaftern, dann fragt er sich zu Recht, warum ist Deutschland so zurückhaltend? Ich frage mich auch. Wir haben immer wieder betont, dass wir aus guten Gründen gegen den Irakkrieg eingetreten sind und dass die Folgen ja auch verheerend sind. Das kann aber nicht heißen, dass man den Teil des Iraks, Kurdistan, das sich stabilisiert hat und das tatsächlich eine Chance hat, wenn man es unterstützt, als Ausgangspunkt zu funktionieren – dass man das jetzt so allein lässt und an der Seite liegen lässt.

Es gibt eine weitere Chance, und auch da hat die Bundesrepublik Deutschland eine Verantwortung, dass die Nachbarstaaten, die zum Teil eine sehr negative Rolle spielen, die ja versuchen, aktiv zu destabilisieren, sei es nun Iran, sei es nun Syrien, dass mit der Wahl in der Türkei eine Beruhigung eingetreten ist, dass das Militär in der Türkei begriffen hat, dass die große Mehrheit der Türken keinen Konflikt wollen mit ihrem Nachbarstaat, dass die große Mehrheit der Türken nicht wollen, dass türkisches Militär hier in Kurdistan, also im Nordirak, einmarschiert und dass das auch eine Entspannung bedeuten kann in einer sehr umstrittenen Frage, nämlich in der Kirkuk-Frage, wo es ja ein Referendum geben soll, wo entschieden werden soll, ob Kirkuk zu Kurdistan dazugehört und zugehören soll.

Sagenschneider: Frau Roth, ich danke Ihnen.