Cynthia d’Aprix Sweeney: "Das Nest"

Familie ohne Wärme

Ein Ein-Dollarschein.
Ein Dollar aus dem Plumb-Erbe © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Von Knut Cordsen · 28.11.2016
Die US-Amerikanerin Cynthia d’Aprix Sweeney hat einen wunderbaren Roman über vier Geschwister geschrieben, die auf ihr Erbe warten. Und liefert einen weiteren Beweis dafür, dass Geld nicht glücklich macht.
Wenn es noch eines Beweises bedürft hätte, dass die Kunst des zeitgenössischen Familienromans eine uramerikanische ist - mit diesem Buch wäre er wohl erbracht. Schon die Entstehungsgeschichte von "Das Nest" trägt romaneske Züge. Da entscheidet sich eine glücklich verheiratete Frau mit 50, nun, da die Kinder allmählich das Haus verlassen, könnte sie sich ihrem alten Traum widmen und schreiben.
Sie studiert, macht ihren Master of Fine Arts in Writing und einer ihrer Lehrer am Bennington College sagt ihr, dass die Story, die sie eingereicht hat, allemal einen guten Roman abgeben würde. Also schreibt Cynthia d’Aprix Sweeney, die älteste von vier Geschwistern, ein Buch über vier Geschwister - und reüssiert damit schlagartig bei Publikum und Kritik.

Leo, Jack, Beatrice und Melody warten auf das Geld

Die fiktiven vier Geschwister in "Das Nest" heißen Leo, Jack, Beatrice und Melody Plumb, sie kommen aus vermögendem Haus in New York und sind 46, 44, 42 und 39 Jahre alt. Ihre Mutter Francie ist eine Trinkerin, die sich um ihre Familie nur insoweit sorgt, als sie diese an Feiertagen gelegentlich trifft und es sonst bei den obligatorischen Geburtstagsanrufen belässt.
Der schon vor längerem verstorbener Vater Leonard hat testamentarisch verfügt, dass alle Kinder erst am 40. Geburtstag von Melody ihr Erbe ausgezahlt bekommen. Doch wenige Monate vor dem Fälligkeitstag verursacht der Älteste dieser Familien-Viererbande, Lebemann Leo, einen Autounfall. Den überlebt seine 19-jährige Gelegenheitsliebschaft, eine Kellnerin namens Matilda Rodriguez, nur knapp - und schwerverletzt.
Um die Geschichte zu vertuschen, entschließt sich die Familie, das Opfer mit hohen Geldbeträgen ruhig zu stellen: Geldbeträgen, die nun bei der Verteilung des Erbes fehlen. Was alle Geschwister gleichermaßen unvorbereitet trifft. Hatten doch alle Plumbs, ob sie nun Häuser kauften, Hypotheken aufnahmen, teure Colleges für ihre Zwillingstöchter aussuchten oder Investitionen tätigten, fest mit der Ausschüttung des Erbes gerechnet.

Plötzlich ist die Zukunftsplanung Geschichte

Plötzlich ist ihre Zukunftsplanung mit einem Schlag Geschichte. Dabei ahnen sie lange nicht, dass der windige Leo, der den Unfall unversehrt überstanden hat, seine zwei Schwestern (die eine eine alleinstehende Schriftstellerin, die andere eine überbesorgte Helikopter-Mutter und Hausfrau) und seinen Bruder (einen schwulen Taugenichts, der einen schlecht laufenden Trödelladen betreibt und sich ansonsten von seinem Mann aushalten lässt) hinsichtlich seiner Finanzen hinters Licht geführt hat.
Kurzum, es geht ums liebe Geld in diesem Roman und um die Frage, wie es uns verändert. Der Tonfall ist angemessen mild-sarkastisch und doch bleibt die Autorin ihren Figuren so nahe, dass sie keine von ihnen je denunziert.
Im Gegenteil, am Ende vermag Cynthia d’Aprix Sweeney den Leser – mit einer Vokabel aus dem rezensorischen Giftschrank sei es gesagt – zu rühren. Das Titel gebende "Nest" übrigens ist der familieninterne Vokabel für das erwartete Erbe. "Was für eine verquere Metapher”, heißt es an einer Stelle. In der Tat, die mit Nestern assoziierte Wärme sucht man in dieser Familie vergebens.

Cynthia d’Aprix Sweeney: "Das Nest"
Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016
410 Seiten, 19,95 Euro

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