Coronatherapie

Ein Rheumamittel als Hoffnungsschimmer

04:31 Minuten
Rötliche Pillen bilden in der Mitte des Bildes ein Apothekenkreuz.
Hilft ein Rheumamittel gegen das neuartige Coronavirus? Ein Mediziner aus Neapel behandelte Covid-19-Patienten damit - mit ermutigenden Resultaten. © Unsplash / Volodymyr Hryshchenko
Von Sven Rech · 23.03.2020
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Eine ungewöhnliche Idee hatte ein Onkologe aus Italien: Er behandelte Patienten, die wegen des Coronavirus an einer schweren Lungenentzündung litten, mit einem Rheumamittel. Mit Erfolg. Jetzt soll die Wirksamkeit in einer klinischen Studie überprüft werden.
Es sei ein bisschen wie das Ei des Kolumbus, sagte Paolo Ascierto letzte Woche im italienischen Fernsehen. Was bedeuten sollte: Der Mediziner aus Neapel hatte eine ungewöhnliche, aber wirkungsvolle Idee. Er behandelte einige Covid-19-Patienten, die künstlich beatmet werden mussten, mit einem Mittel, das er aus ganz anderen Therapieanwendungen kannte: Tocilizumab, ein Medikament, das eigentlich für schwere rheumatischen Entzündungen entwickelt wurde.
"Wir Onkologen und auch die Hämatologen haben gute Erfahrungen mit diesem Medikament, weil wir es in einigen Fällen bei der Immuntherapie einsetzen, um bestimmte Nebenwirkungen zu behandeln", erklärt Ascierto. "Der Prozess, der die schwere Atemnot infolge von Covid-19 bestimmt, ähnelt dem Zytokinsturm bei Immuntherapien. So kamen wir auf die Idee."

Die Überproduktion von Zytokinen stoppen

Ein Zytokinsturm ist eine Überreaktion des Immunsystems: Es bildet zu viele Abwehrzellen, die wiederum die Bildung neuer Abwehrzellen hervorrufen, und immer so weiter. In kontrollierter Form können Mediziner diesen Effekt unter anderem in der Krebstherapie nutzen. Verselbständigt sich ein Zytokinsturm jedoch, dann kann das zum Versagen des betroffenen Organs und letztlich zum Tod führen.
Mit dem Medikament Tocilizumab lässt sich eine Überproduktion von Zytokinen behandeln – und das haben Paolo Ascierto und seine Kollegen sich zunutze gemacht, um die Lungenentzündung der Covid-19-Patienten in den Griff zu bekommen. Mit ermutigenden Resultaten. Innerhalb von ein, zwei Tagen trete bereits eine deutliche Verbesserung ein, berichtet Paolo Ascierto. Dennoch spricht der Mediziner im Interview mit dem Deutschlandradio erst einmal nur von einem "vorsichtigen Optimismus":
"Bei unseren ersten zehn Patienten, die wir so behandelt haben, mussten sieben bereits künstlich beatmet werden. Von diesen sieben zeigen fünf eine deutliche Verbesserung der Atmungsparameter. Bei einem war die Atemnot leider bereits so weit fortgeschritten, dass er kurze Zeit später starb. Ein weiterer Patient ist ohne Veränderung. Dagegen reagierten die drei noch nicht Intubierten, die mit schweren Atemproblemen eingeliefert wurden, mit einer sehr deutlichen Verbesserung der Atmung."
Mittlerweile konnten zwei der Patienten, die künstlich beatmet werden mussten, extubiert werden – das heißt, sie können wieder selbständig atmen.

Weltweite Studie ab Anfang April

Paolo Ascierto ist ein erfahrener Arzt. Die internationale Plattform Expertscape listet ihn als einen der weltweit führenden Onkologen im Kampf gegen den schwarzen Hautkrebs. Ascierto leitet die Onkologie der wichtigsten Tumorklinik in der italienischen Region Kampanien, das Krankenhaus Pascale in Neapel. Gleichzeitig führt er dort eine Abteilung für innovative Therapien. Als Wissenschaftler steht er in ständigem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt. So hatte er auch schon früh die Möglichkeit einer Covid-19-Therapie mit Tocilizumab mit Medizinern in China diskutiert.
"Wir hatten die Idee, und sie wurde von unseren chinesischen Freunden verifiziert, die sie an 21 Patienten angewendet haben – mit guten Ergebnissen."
Unter der Federführung der Klinik Pascale in Neapel ist am Freitag italienweit eine klinische Studie mit dem Wirkstoff Tocilizumab angelaufen. Der Schweizer Pharmakonzern La Roche, der das Medikament herstellt, hat angekündigt, es für die Studie kostenlos zur Verfügung zu stellen. Laut der Schweizer Wirtschaftszeitung "Finanz und Wirtschaft" soll das Medikament ab Anfang April auch in einer weltweiten Studie an etwa 330 Coronapatientinnen und -patienten getestet werden.

Eine Wunderwaffe ist Tocilizumab nicht

Es handele sich aber nicht um eine Wunderwaffe gegen das Virus, warnt Paolo Ascierto. Eher um einen Schutzschild, um das Allerschlimmste zu verhindern.
"Das Medikament ist kein Medikament gegen das Virus. Aber es hilft gegen eine Komplikation der Erkrankung. Wenn das funktioniert, ist das schon sehr hilfreich. Denn was das Land in die Knie zwingt, ist die Tatsache, dass die Intensivstationen überfüllt sind mit Coronapatienten. Für andere Patienten in Lebensgefahr ist schon jetzt in vielen Krankenhäusern kein Platz mehr. Wenn es uns gelingt, diese Komplikation zu blockieren und die Zahl derer, die beatmet werden müssen, zu reduzieren, dann wäre das immerhin ein bedeutendes Ergebnis."
Die Zeit dafür drängt. Schon sind neun von zehn Coronatoten in Norditalien gar nicht erst auf eine Intensivstation gekommen – weil die hoffnungslos überlastet sind.
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