Coronapandemie

Gefährliche Flucht in die Sucht

04:29 Minuten
Ein Mitarbeiter schiebt in einem Supermarkt in Berlin-Schöneberg in der Getränkeabteilung kurz vor Beginn des für Silvester geltenden Verkaufsverbots von alkoholischen Getränken vor einem Hinweisschild einen Wagen.
Zu Silvester wurde der Alkoholverkauf reglementiert. Sonst wird zurzeit viel getrunken. © picture alliance / dpa / Christoph Soeder
Ein Kommentar von Ursula Ott · 10.02.2021
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Der Lockdown lässt den Alkoholkonsum in Deutschland steigen. Suchtprobleme nehmen zu, befürchtet die "chrismon"-Chefredakteurin Ursula Ott. Sie warnt vor den Folgen für Erwachsene, aber auch für Kinder.
Am Anfang haben wir uns lustig gemacht. Lange nach Corona – diesen Witz schickten wir uns vom Homeoffice ins Homeoffice – nach Corona wird dieses Land von Kindern regiert, die von Wein trinkenden Müttern zu Hause unterrichtet wurden. Haha. Da dachten wir noch: Ist doch ganz lustig, ein paar Wochen zu Hause Party machen.
Man traf sich täglich im Weinladen, der trotz aller Kontaktsperren freundlicherweise noch offen bleiben durfte. Und wenn man am nächsten Morgen eine Fahne hatte, konnte das in der Zoom-Sitzung ja zum Glück keiner riechen.

Nicht nur Alkoholkonsum steigt in Zeiten der Pandemie

Jetzt, ein Jahr später, kriegen wir nicht mehr so oft diese lustigen Bilder aufs Handy. Alle sind erschöpft. Corona will gar nicht mehr weggehen. Der Humor ist einer allgemeinen Genervtheit gewichen. Aber das mit dem Alkohol- und Drogenkonsum, das ist so geblieben.
Es wird viel getrunken. Es wird vor allem bei jungen Leuten viel mehr gekifft. Es steigt der Konsum von Ecstasy und Kokain. Beim Alkohol weiß man es genau, dazu gibt es Studien: Jeder dritte Deutsche trinkt mehr seit Corona. Bei den anderen Drogen muss man sich nur umhören bei Ärzten und Therapeutinnen in den Suchtkliniken.
Aber wer macht das schon: sich umhören in einer Suchtklinik. Klar, die haben es schwer. Manche wurden sogar dichtgemacht und zur Corona Intensivstation. Es fehlen Plätze, es fehlen Gruppen-Angebote, und wenn die Ärztin im Ganzkörper-Umhang und mit Mundschutz arbeiten muss, kann sie ihrem Klienten nicht ins Gesicht schauen, kein Vertrauen aufbauen. Alles lästig, aber das kennt man ja inzwischen. Ist doch in der Schule und der Kita und der Kirche genauso.

Die Gefahr der Gewöhnung

Nein, es ist anders. Schlimmer. Weil die wenigen Streetworker und Alkohol-Selbsthilfegruppen, die im Moment überhaupt arbeiten können, keine Lobby haben und mit lachhaft wenig Geld ausgestattet sind. Sie arbeiten wie David gegen Goliath. Jeder koksende Rapper auf Youtube ist ein gehypter, cooler Typ. Mit Alkohol, Zigaretten, aber auch mit Cannabis werden Milliarden verdient. Es ist ein ungleicher Kampf.
Damit haben wir Normalverbraucher ja nichts zu tun? So einfach ist es nicht. Hier wir Genusstrinker, dort die Schmuddelkinder – das haut nicht hin. Jede Droge gibt uns was – ob das Glas Wein, der Joint oder das Aufputschmittel. Tröstet bei Corona-Frust. Nimmt uns die Angst vor Pandemiezahlen und Pleite. Produziert bunte Bilder und schräge Töne im Kopf.
Die meisten Drogen sind erst dann gefährlich, wenn sie als Lösung für Probleme herhalten sollen. Ein Glas Wein nach einem nervigen Tag voller Zoom-Konferenzen, das geht schon klar. Und in der Studenten-WG ohne Partys und Festivals hilft der Joint abends schon mal gegen Langeweile. Aber wenn uns nur noch der Wein und der Joint einfallen als Glücksbringer, wird es spätestens nach Corona richtig gefährlich.

Suchtgefährdete Jugendliche brauchen schnelle Hilfe

Zwei Dinge sind jetzt wirklich wichtig. Erstens: Wir sollten uns selber beobachten – sonst sieht uns ja im Moment keiner. Also uns kritisch prüfen, ob wir zu viel Alkohol konsumieren, zumal vor unseren Kindern.
Zweitens: Die Politik muss sich anstrengen, um das Schlimmste zu verhindern. Es braucht Schulpsychologen und Sozialarbeiterinnen. Es braucht Geld und Personal für Kinderschutzzentren. Und für die Psychiatrien, bei denen jetzt schon mehr Jugendliche mit riskantem Konsum auftauchen – und mit Selbstmordgedanken.
Wirklich blöde wäre, wenn wir uns nach Corona gegenseitig Sprüche schicken müssten, die dann so heißen: Das Land wird jetzt von Kindern regiert, deren Väter schon um zehn Uhr morgens betrunken waren und denen um 12 Uhr die Hand ausgerutscht ist. Das wäre natürlich gar nicht lustig. Und das sollten wir verhindern.

Ursula Ott, Jahrgang 1963, ist Chefredakteurin von "chrismon". Sie studierte Politik und Journalistik in München und Paris, besuchte die Deutsche Journalistenschule und arbeitete bei der "Frankfurter Rundschau", "Emma", "Die Woche" und "Brigitte". Sie hat zwei erwachsene Söhne.

© Lena Uphoff
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