Corona-Wortschatz

Der Wahnsinn der deutschen Sprache

05:32 Minuten
Bundeskanzlerin Angela Merkel geht grinsend um eine Ecke.
Mit ihrer Kritik an "Öffnungsdiskussionsorgien" hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Coronakrise um eine besondere Wortschöpfung reicher gemacht. © picture alliance/dpa/Kay Nietfeld
Christoph Kucklick im Gespräch mit Axel Rahmlow · 07.05.2020
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"Lockdown", "Systemrelevanz", "Ausgangsbeschränkungen": Die Wörter der Krise werden groß geschrieben oder sind auf Englisch, sagt Christoph Kucklick, Leiter der Henri-Nannen-Schule – und gratuliert Angela Merkel zum schönsten Wortungeheuer.
Wie kein anderer hat er auf die Präzision der deutschen Sprache geachtet und mit seinen Büchern und an der Hamburger Henri-Nannen-Schule Hunderte Journalisten gelehrt: Der langjährige frühere Schulleiter und Sprachkritiker Wolf Schneider wird heute 95 Jahre alt. Christoph Kucklick ist der aktuelle Leiter der Schule: Was lässt sich über die Sprache der Krise sagen?
Kucklick würde im Moment vor allem einen Begriff aus jedem journalistischen Manuskript streichen – das Wort "systemrelevant". Der Begriff "Systemrelevevanz" sei "eine besonders hässliche Kombination von Buchstaben" und zudem "gänzlich sinnentleert", kritisiert der Journalist. "Jeder definiert ,Systemrelevanz’ wie er oder sie möchte. Mal sind Krankenschwestern, mal Fernfahrer, mal Theaterregisseure ,systemrelevant’." Es sei ein "nicht mehr zu gebrauchendes, zu Tode politisiertes Wort."

Englische Wörter für neue Situationen

Interessant findet Kucklick, dass anstatt des deutschen Wortes "Ausgangssperre" das schwerer verständliche, aber "sanfter klingende" englische Wort "Lockdown" benutzt werde. "Womöglich tun wir das ja, um diese neue Situation zu markieren, das was wir noch nie gehabt haben – dafür brauchen wir ein neues Wort." Man könne natürlich auch Begriffe wie "Social Distancing" eindeutschen, aber dann würden sie nicht das Neue der Situation ausdrücken.
Kucklick stört derzeit vor allem die Worthäufung von Substantiven: Statt "Lockerung" könne man einfach "lockern, runterfahren, mildern, aufweichen, entschärfen, lösen, erleichtern" sagen. "Wir haben so viele schöne Worte dafür, das sollten wir wirklich häufiger machen", meint er. Auch die Nachrichten seien wegen der vielen zusammengesetzten Substantive gerade "hart an der Verständlichkeitsgrenze".
Die deutsche Sprache habe dennoch einen prächtigen Wortschatz und erfinde ständig neue Worte, wie Angela Merkels "Öffnungsdiskussionsorgien", sagt Kucklick. "Sollten wir nicht ein bisschen stolz auf diesen Wahnsinn der deutschen Sprache sein?" Das heiße jedoch nicht, dass man solche Worte in journalistischen Texten allzu oft benutzen sollte.
(sed)
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