Comeback eines Diktators

09.04.2009
Die Erinnerung an das Grauen unter Stalin verblasst im heutigen Russland offenbar immer mehr. In einer Umfrage wurde der Diktator zum "größten Helden der russischen Geschichte" gewählt. Das ist für Wolfgang Leonhard Anlass, sich in seinem Buch "Anmerkungen zu Stalin" erneut mit dem unerbittlichen Herrscher zu befassen.
Es ist ein politisches Vermächtnis. Jahrzehntelang hat sich Wolfgang Leonhard wissenschaftlich und publizistisch mit Stalin und dem Stalinismus auseinandergesetzt, nachdem er ihm entkommen war. 1989 bis 91 brachen die stalinistischen Regime zusammen, Leonhards Mission schien erfüllt - die Aufklärung über die wahre Dimension der Gewaltherrschaft auch in Russland angekommen. Doch mit Putin ist das Gespenst wieder aufgetaucht – und der grassierende Stalin-Kult droht die historische Aufklärung zunichte zu machen, mit unabsehbaren politischen Folgen.

Das macht Wolfgang Leonhard Angst, und dagegen schreibt er an. Der Titel seines Buches erinnert an Sebastian Haffners "Anmerkungen zu Hitler". Damals hatte Joachim C. Fest seine erschöpfende Hitler-Biographie vorgelegt. Haffner beschränkte sich daher (mit sensationellem Erfolg) auf ein schmales Bändchen mit "Anmerkungen". Ähnlich Leonhards Situation heute: Die jüngsten Werke von Orlando Figes und Karl Schlögel sind ins Innerste der stalinistischen Schreckensherrschaft vorgedrungen. Da kann Wolfgang Leonhard nicht mit fundamental neuen Funden oder Erkenntnissen aufwarten. Er muss sich darauf beschränken, in knapper Form das System des Stalinismus zu erklären. Das ist der Wert dieses Buches: Wer die dicken Abhandlungen nicht gelesen hat, erfährt hier in Kürze, wie Stalin nach Lenins Tod aus einer revolutionären Bewegung ein perverses System geformt hat, das einzig dem Ausbau und der Sicherung seiner persönlichen Macht diente. Auf dem Höhepunkt hatte sich der Führerkult um Stalin so sehr dem nationalsozialistischen Führerkult um Hitler angenähert, dass Stalin Hitler offenbar weltpolitisch als politischen Mitspieler auserkoren hatte. Stalins Unfähigkeit, auf den Angriff Hitler-Deutschlands 1941 zu reagieren, spricht Bände. Erst wollte Stalin nicht wahrhaben, dass Hitler ihn angriff – und dann, als der Einmarsch nicht mehr zu leugnen war, habe er sich auf seine Datscha zurückgezogen und betrunken, schreibt Leonhard. Seine Ausführungen machen deutlich, dass die viel geschmähte Totalitarismustheorie nicht nur böswillige Kalte-Kriegs-Propaganda war.

Leonhard beschreibt Stalin als Realisten und Pragmatiker unter den bolschewistischen Revolutionären des Jahres 1917. Stimmungen in der russischen Bevölkerung schätzte er viel besser ein als die anderen Revolutionsführer. Während jene etwa auf Internationalismus und Weltrevolution setzten, gab Stalin die Losung vom "Sozialismus in einem Land" aus und formulierte damit eine für die Bevölkerung vorstellbare Perspektive. Als Lenin 1924 starb, nutzte Stalin den Augenblick, um sich bei der Trauerfeier so in Szene zu setzen, dass ihm daraus ein entscheidender Vorteil im Machtkampf mit seinen Rivalen entstand. Mit allen weiteren Schritten zur Ausweitung seiner Macht entfernte er die Sowjetunion immer weiter von den einstigen Prinzipien der Revolution – im Namen der Revolution, die längst zu einem Heiligenschrein ehrfürchtiger Anbetung entrückt worden war.

Leonhard skizziert diesen Prozess, der schließlich in den großen Terror mündet - allerdings ohne eigene kühne Gedanken, um das Unfassbare zu erklären. In dieser Hinsicht sind Leonhards "Anmerkungen zu Stalin" mit Haffners "Anmerkungen zu Hitler" nicht zu vergleichen. Was etwa in den 20er-Jahren, bei seinem Aufstieg, die Faszination Stalins ausmachte, darüber erfährt man wenig. Oder – wie im Terror 1936-38 das Zusammenspiel zwischen Volk und Führer funktionierte. Wie war es möglich, dass Stalin sein terrorisiertes Volk – und Kommunisten in aller Welt - so sehr in seinen Bann schlug, dass sie sich davon kaum lösen konnten?

Originelle neue Gedanken, die das Phänomen Stalin erklären, bietet Leonhard nicht. Mehr noch, am Ende ist sein Buch selbst ein Dokument aus einer untergegangenen Welt. Indem Leonhard überzeugend, anschaulich und klar die Perversion der marxistischen Ideen durch Stalin beschreibt, lässt er nämlich erkennen, dass ihn die marxistische Utopie noch bewegt. Er will noch einmal deutlich machen, dass der Marxismus mit dem Stalinismus nichts zu tun habe: Das ist sein politisches Vermächtnis und der eigentliche Grund seines Alarmrufes angesichts der bedrohlichen Entwicklung in Russland.

Rezensiert von Winfried Sträter

Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin
Rowohlt Berlin 2009
191 Seiten, 16,90 Euro