Comeback des Christentums

Vorgestellt von Sebastian Engelbrecht · 21.01.2007
Für Johann Hinrich Claussen führt die Erosion des Sozialstaates und die Veränderungen durch die Globalisierung zu einer starken Verunsicherung der Menschen. Zugleich sieht er in der Suche nach Orientierung auch eine neue Chance für das Christentum.
Spätestens jetzt weiß es auch das breite Publikum: Der Kulturprotestantismus ist zurück auf der Bühne der Geschichte. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte er sich verabschiedet, eine Melange aus Bildung, Moral und Sittlichkeit. Im ausgehenden 19. Jahrhundert feierte der Kulturprotestantismus seine Hochphase: Religion als Stütze für Staat und Gesellschaft, als Lückenfüller in den Sinnlöchern des kapitalistischen Systems.

Johann Hinrich Claussen ist nicht der erste Theologe, der in dieser Protestantismus-Variante die Zukunft sieht, aber einer der ersten, der sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts allgemeinverständlich neu formuliert.

"Es gibt ja auch neue Formen, Kultur und Protestantismus zusammenzudenken, die eben nicht auf eine bruchlose Identität und Harmonie hinauslaufen, sondern zu gucken, dass (…) die Evangelische Kirche eine eigene Institution, eine eigene Gestalt ist, die nicht einfach sozusagen in der Kultur aufgeht, die aber eine ganz, ganz wichtige Aufgabe hat, nicht nur für sich selbst da zu sein, sondern für die Kultur insgesamt, nämlich sie darauf hinzuweisen auf all das, was in einem gängigen Marktmodell, offene Gesellschaft, Marktwirtschaft, Leistungsgesellschaft nicht vorkommt. Nämlich der unbedingte Respekt vor allem Leben, die Hinwendung zu den Armen und Benachteiligten, überhaupt zu all dem, was uns transzendiert."

So also soll sie sein, soll sie kommen: die Auferstehung der Religion in unserer gottvergessenen, gründlich säkularisierten Zeit. Nicht die lila Tücher der friedensbewegten Polit-Protestanten der 1980er Jahre sieht Claussen wieder flattern, er entwirft das Christentum nicht neu von der Bibel her, von seiner fremden Seite, sieht die Kirche nicht im Gegensatz zur Welt, als Hort des weltfremden Mythos von Jesus Christus. Vielmehr erkennt der Hamburger Hauptpastor die Chance der christlichen Religion im Mangel an Alternativen.

"Das hat bestimmt auch damit zu tun, dass das jetzige Gesellschaftsmodell, kapitalistische Marktwirtschaft, Wohlstandsgesellschaft, doch auch an gewisse Grenzen gestoßen ist. Also die alten Sicherungen durch Sozialstaat, durch Wohlstand für alle, überhaupt für all das, was für soziale Marktwirtschaft steht, ist in Gefahr und könnte sich möglicherweise doch im Globalisierungsstrudel aufzulösen. Und das sorgt für Verunsicherung beziehungsweise für eine große Sehnsucht oder ein Interesse, sich neu zu orientieren. Und dann fragt man eben immer auch nach Religion."

Noch vor 15 Jahren, meint Claussen, hätten viele nur Spott und Verachtung für das Christentum übrig gehabt. Dieselben Menschen begegneten der Religion des Abendlandes jetzt wieder mit Respekt. Sie nehmen den Papst als Medienstar und damit auf neue Weise als religiöse Autorität wahr. An Werktagen offene Kirchen finden regen Zulauf. Auch junge Leute trauen sich wieder in Kirchen, halten inne, zünden eine Kerze an. Sie begegnen in den Straßen deutscher Städte charismatischen Christen aus Afrika und sichtbar gläubigen Muslimen. Das steckt an und drängt dazu, nach den eigenen religiösen Wurzeln zu fragen. Eltern fragen wieder danach, wie sie ihren Kindern ein Fundament des Glaubens beibringen können und entdecken dabei die Religion neu für sich selbst. Und schließlich: Die beiden großen Kirchen, meint Claussen, bedienten sich erfolgreich der "event-Kultur", sei es beim katholischen "Weltjugendtag" oder bei evangelischen Kirchentagen.

"Es ist nicht so, dass nun ganz viele Menschen alle wieder in die Kirche eintreten und ganz furchtbar fromm würden, aber sie fragen mit einer neuen Ernsthaftigkeit nach dem, was die Kirche zu sagen hat und nach dem, was das Christentum bedeutet – und das eben auch in Großstädten wie Hamburg und Berlin, wo sozusagen die mittlere intellektuelle Schicht noch vor 10, 20 Jahren nicht im Traum daran gedacht hätte, sich mit Figuren wie dem Papst zu beschäftigen, und zwar ernsthaft zu beschäftigen."

Claussen hat richtig beobachtet: Zumindest das oberflächliche Interesse an den beiden großen Kirchen hat zugenommen. In der Statistik der Kirchenaustritte allerdings hat sich das Phänomen noch nicht niedergeschlagen.

Wie unverbindlich die neue Zuwendung zur christlichen Religion ist, wird umso deutlicher in Claussens Gedanken über das Verhalten der eingefleischten Atheisten. Selbst diese antiklerikale Klientel brauche das Christentum. Wenn ein Kirchgebäude aufgegeben werde, stoße das bei den notorischen Agnostikern auf den deutlichsten Widerspruch.

"Dieses Beispiel aber auch viele andere zeigen mir ein hohes Bedürfnis, dass es so etwas wie Kirche gibt. Auch wenn man ihr selber nicht angehört oder auch wenn man sich gerade von ihr abgewendet oder gegen sie entschieden hat, (…) – dass es jemanden gibt wie einen Pastor, wie eine Kirche, wo bestimmte Dinge tradiert und gepflegt werden, wo bestimmte Gottesdienste gefeiert werden, wo bestimmte Werte vermittelt werden. Auch wenn man selber für sich selber nicht dazugehören will, hat es irgendwie etwas Stabilisierendes, etwas Beruhigendes, etwas Tröstliches sogar, wenn man weiß, dass es das weiterhin gibt. Erstaunlich."

Worin die Zumutung dieses Kultur-Christentums bestehen soll – diese Frage bleibt bis zum Ende der Lektüre offen. Claussens Wiederentdeckung der Religion hat ihren Preis. Von den radikalen Ideen Jesu bleibt in dieser Neu-Mixtur aus traditioneller Volkskirche und Kulturprotestantismus nur religiöser Lifestyle übrig – ein Sinnangebot ohne markiertes Ziel.

Johann Hinrich Claussen: Zurück zur Religion - Warum wir vom Christentum nicht loskommen
Pantheon Verlag, München 2006
Johann Hinrich Claussen: "Zurück zur Religion"
Johann Hinrich Claussen: "Zurück zur Religion"© Pantheon Verlag