Colum McCann: "Verschwunden"

Die verwaiste Mutter

Der irische Schriftsteller Colum McCann 2014 in Köln beim Literaturfestival lit.cologne
Der irische Schriftsteller Colum McCann 2014 in Köln beim Literaturfestival lit.cologne © dpa / picture alliance / Horst Galuschka
Von Edelgard Abenstein · 27.01.2016
Das neue Buch des Iren Colum McCann ist eine abgründige Erzählung von nur 96 Seiten: "Verschwunden" beschreibt die schwierige Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem gehörlosen Adoptivsohn. Als der Junge verschwindet, durchleidet sie eine Hölle aus Selbstvorwürfen.
Als Thrillerautor war der irische Schriftsteller Colum McCann bisher nicht bekannt. Seine vielfach preisgekrönten Romane entfalten opulente Geschichtspanoramen zwischen Alter und Neuer Welt ("Transatlantik", 2014), zwischen dem von Hungersnöten und Bürgerkrieg geschüttelten Irland und dem Drogen-, Dreck- und Depressions-New-York der 1970er Jahre ("Der Himmel unter der Stadt",1998 ; "Die große Welt", 2009). Immer wieder geht es bei ihm um das Fremdsein, um Menschen, die ihre Heimat verlassen, und um Underdogs, die sich durchboxen.
So auch in "Verschwunden". Die Geschichte beginnt wie ein Krimi. In einem kleinen Dorf im irischen Galway wird ein Junge vermisst: der 13-jährige Tomas, ein russisches Waisenkind, er ist taubstumm. Rebecca hat ihn adoptiert, als er sechs war, seit ein paar Jahren leben sie in dem Haus an der Atlantikküste. Zu Weihnachten schenkte sie ihm − sein größter Wunsch − einen Neoprenanzug. Am Morgen danach sind Tomas und der Anzug verschwunden. Das ganze Dorf sucht nach ihm, in den Klippen, am Strand, auf dem Meer. Rebecca, schwankend zwischen wilder Hoffnung und Verzweiflung, durchleidet eine Hölle aus Selbstvorwürfen.
Es geht ans Herz, wie McCann diese Tage schildert. In schnellem Wechsel tauchen Erinnerungen an den Vermissten auf, an die schöne raue Mutter-Sohn-Idylle, als er Chaplin imitierte, die Füße nach außen gekehrt, ein imaginäres Stöckchen im Wind kreisen lassend − und wie das Spiel manchmal in Aggressivität umschlug. Knapp, doch präzise wird von der pubertären Krise des einsamen Jungen erzählt, von der Wut auf die ihn vor allem schützende Mutter und ihre Hoffnungen und Sehnsüchte.
Auslassungen und falsche Fährten
Perfekt nutzt McCann die Chancen der kleinen Form. Er arbeitet mit Auslassungen und ein bisschen verwegen mit falschen Fährten, die genauso mehrdeutig sind wie das, was die Mutter aus den Gebärden, dem Gang, den Schultern ihres Sohnes liest. Mit wenigen Strichen skizziert er Angst und Einsamkeit, bringt Räume, die Landschaft zum Sprechen, macht sie zum Spiegel innerer Zustände, wenn eine Tür "panisch" im Wind schlägt oder ein Sonnenstrahl "so klar und hell wie ein Knochen" daliegt.
Treibstoff für McCanns rasantes, atmosphärisch dichtes Erzählen ist der Beruf der Heldin. Sie übersetzt aus dem Hebräischen und scheiterte, bevor Tomas verschwand, an dem Wort 'Sh'khol'. Es meint Eltern, die ihr Kind verloren haben, verwaiste Eltern sozusagen. Im Englischen gibt es dafür kein Wort, auch im Deutschen nicht. Die richtige Übersetzung fällt ihr ein, als sie Tomas wieder sieht. Plötzlich taucht er auf. Aus dem Nichts. Er ist unversehrt. Kein Missbrauch, keine Verletzungen. Bloß, wo ist er gewesen?
Es gibt − und das ist der eigentliche 'Thrill' des Buches – keine Antwort. Rebecca reicht der "simple Segen seiner Rückkehr". Uns Lesern bleibt das Rätsel in diesem beunruhigenden und abgründigen Buch über das Erwachsenwerden. Und die unumstößliche Einsicht: "Man kann nicht immer ein Kind bleiben. Eine Mutter schon."

Colum McCann: Verschwunden
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Dörlemann Verlag, Zürich 2016
96 Seiten, 15 Euro

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