Colson Whitehead: "Harlem Shuffle"

Schwarzer Mann ohne Eigenschaften

06:22 Minuten
Eine Straßenkreuzung im Harlem der 1960er-Jahre.
"Harlem Shuffle" ist ein Stück New Yorker Stadtgeschichte, ein Kapitel schwarzer Geschichte und ein Gangsterroman. © Hanser Literaturverlage/Deutschlandradio
Von Carsten Hueck · 21.08.2021
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Colson Whitehead erzählt in "Harlem Shuffle" von einem Schwarzen, der im New York der 60er auf ehrliche Weise Geld verdienen will, aber es nicht ganz ohne Gaunereien schafft. Ein rhythmischer Gangsterroman, mal verspielt, mal gnadenlos.
Der Shuffle ist ein dreigeteilter Rhythmus, im Blues verwendet, lässt er Raum für Improvisation. Harlem Shuffle war ein beliebter Tanz der 1950er- und frühen 1960er-Jahre in jenem Stadtteil Manhattans, der überwiegend von Schwarzen bewohnt wurde.
Colson Whiteheads neuer Roman spielt in dieser Zeit, an diesem Ort, aufgeteilt in drei Kapitel. Ein rhythmischer Roman, der viel Musik in sich trägt, der eine Richtung vorgibt, der pulsiert, mal verspielt, mal gnadenlos hart.

Rauskommen, Hochkommen

Die Hauptfigur ist Ray Carney, ein unauffälliger Mann, dessen Vater noch Kniescheiben zertrümmert und seinem Sohn einen alten Pick-up hinterlassen hat. Im Ersatzreifen 30.000 Dollar. "Man kam von einem bestimmten Ort, aber wichtiger war, wo man landen wollte" ist Rays Motto. Von der kriminellen Energie seines Erzeugers hat er wenig geerbt. Er versucht, sich ohne krumme Geschäfte eine Existenz aufzubauen. Will raus aus der engen Hinterhofwohnung, wenigstens an den Riverside Drive mit Blick auf den Hudson.
Er studiert in Abendkursen Betriebswirtschaft, kauft einen heruntergekommenen Möbelladen und bringt ihn auf Vordermann. Heiratet eine Frau, deren Eltern angesehene Mitglieder der bürgerlichen, schwarzen Community New Yorks sind, Mitglieder im Klub derjenigen, die es schon zu Geld und Einfluss gebracht haben und die im Schwiegersohn nur den unrespektablen "Straßennigger" sehen.
Doch Ray ist zäh, kennt seine Möglichkeiten und Grenzen und lässt sich eher zufällig als vorsätzlich dazu verleiten, mit der einen oder anderen Hehlerei die Haushaltskasse aufzubessern. Ganz aufstrebender Geschäftsmann und im klaren Bewusstsein, dass es ohne Kontakte zum Milieu korrupter Polizisten, Schutzgelderpresser, Geldeintreiber, Zuhälter und Gangsterbosse in Harlem kein Aus- und Vorankommen gibt.

"Die schlichte Beredsamkeit der Gewalt"

Colson Whitehead nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise. In eine Kultur, die man nur aus dem Kino kennt, ins Herz des schwarzen Harlem, in Bars und Klubs, in denen "Weißbacken" nichts verloren haben.
Egal ob Automarken, Sofagarnituren oder Fernsehgeräte, ob Kinofilme und Bürgerrechtsbewegung – der Autor kennt alle Details. Der Slang ist ungewohnt, die Dialoge sind cool, manchmal witzig, und da ist dieses Schwingen der Sprache, ihre Leichtigkeit: überraschende Tempowechsel, erst Geplänkel, gefolgt von Anekdoten aus der Vergangenheit, Drumherumreden. Und dann "die schlichte Beredsamkeit der Gewalt", die zu schnellen Entscheidungen und Richtungswechseln zwingt.

Rassismus als Triebfeder

Durch seinen Cousin Freddie wird Ray immer wieder in Situationen gebracht, die seine äußerlich geordnete Existenz bedrohen. Und dann zeigt sich, dass dieser schwarze Mann ohne Eigenschaften, wenn freier Wille und Umstände kollidieren, sehr wohl tatkräftig zuschlagen kann.
"Vielleicht waren es nicht Umschläge, die die Stadt am Laufen hielten, sondern Groll und Vergeltung", heißt es an einer Stelle. Nicht das Geld, sondern die Demütigungen, der verletzte Stolz, der Rassismus – auch innerhalb der schwarzen Gemeinschaft – erweisen sich als Triebfedern für das Handeln der Protagonisten.
"Harlem Shuffle" ist ein Stück New Yorker Stadtgeschichte, ein Kapitel schwarzer Geschichte und ein Gangsterroman. Mit einem stillen Helden, der Verstand und noch mehr Glück hat beim Manövrieren durchs Leben.

Colson Whitehead: "Harlem Shuffle"
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Carl Hanser Verlag, München 2021
384 Seiten, 25 Euro

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