Collage mit Parallelsituationen

Von Volker Trauth · 03.11.2011
Das Berliner Ensemble hat den zehnten Todestag von Thomas Brasch zum Anlass genommen, eine "szenische Collage" mit Texten des Dramatikers aufzuführen. Bestandteil der Collage ist das 1980 uraufgeführte Stück "Mein lieber Georg".
Von der Struktur her ist dieser Abend eine szenische Collage und vereint Texte unterschiedlichen Genres. Der Titel ist identisch mit dem Erzählband, der 1976 unmittelbar vor der Übersiedlung im Rotbuchverlag erschien und den Autor Brasch berühmt machte. Im Zentrum dieses Erzählbands steht bekanntlich ein Ausbruchsversuch von drei jungen DDR-Bürgern, die ihre Freiheitssehnsucht auf anarchisches Weise ausleben und von denen einer auf der Flucht in den Westen erschossen, der andere zur Bewährung in die Produktion geschickt wird und dort widersinnige Vorgänge in einer sozialistischen Brigade erlebt.

Von all dem ist in Karges szenischer Collage nichts mehr zu finden, kein Satz des Erzählbandes ist an diesem Abend im Originalzustand zu hören. Was die Gedichte, Lieder, dokumentarischen Texte, die Szenenentwürfe und Briefzitate des ersten Teils mit Braschs Erfolgsbuch von 1976 verbindet, ist die Grundsituation, der unaufhebbare Widerspruch zwischen der Generation der Väter und der der Söhne, die nicht mehr kritiklos das von den Vätern vorgegebene Leben hinnehmen wollen. Die Textauswahl Karges zielt auf Parallelsituationen und auf thematische Entsprechungen.

Im Erzählband Braschs gibt es beispielsweise eine Szene, in der ein junger Mann auf einen Spanienkämpfer trifft und den nicht begreifen kann, wenn der das Bild von Stalin aus dem Bilderrahmen nimmt, gegen einen Spiegel austauscht und nun seine entstellte Fratze sieht. Mit diesem Vorgang korrespondiert ein von Karge selbst gelesener Prosatext, der von einem Parteifunktionär berichtet, der – immer der Parteilinie folgend – ständig die Fotos der "führenden Genossen" austauscht.

Den Kampf der Väter mit den Söhnen gibt es hier wie da: im Erzählband bringt einer der Helden im Fiebertraum seinen Vater um und in der Textauswahl des Berliner Ensembles attackieren gleich zwei Väter ihre Söhne: in einem Brief an den Sohn fordert der stellvertretende Kulturminister Brasch seinen Sohn auf, auf dem Boden des Marxismus-Leninismus zu bleiben und im Drama "Mein lieber Georg", das Bestandteil des Programms ist, verunglimpft der Gerichtspräsident Heym seinen Sohn als einen "stotternden Wicht". Ohne auffälligen Übergang zu den Gedichten, Briefen und dramatischen Entwürfen des ersten Teils folgt im Berliner Ensemble eine verknappte Fassung von Braschs besagtem Stück, jenem Stück, in dem der Autor anhand der Lebensstationen des ihm seelenverwandten Expressionisten Heym eine Parabel zum Existenzkampf des Künstlers in einer dogmatischen Gesellschaft hintupft.

Im gleichen Bühnenbild agieren die Darsteller, drei Studenten der Hochschule "Ernst Busch" zusammen mit Manfred Karge. Auf einem mannshohen Podest sitzen sie - gleichsam im Zeugenstand - und geben zu Protokoll. In der Mitte die Hauptfigur Georg Heym, zu dessen beiden Seiten der Freund Balcke und – dargestellt von der jungen Johanna Griebel – die Freundinnen Hilde und Leni. Manfred Karge, der 1980 in Bochum die Uraufführung herausgebracht und die Hauptrolle gespielt hat, versucht keine neue eigenständige Inszenierung, keinen anderen interpretatorischen Ansatz. Wenn der Untertitel des gesamten Abends "Erinnerung" lautet, so ist diese Präsentation des Stücks eine Erinnerung an die berühmt gewordene Aufführung von Bochum.

Die Annäherung an die Bochumer Inszenierung geschieht durch die Szenenfotos, die auf den Hintergrund projiziert werden. Auf denen sehen wir wie die Figur der Albtraumphantasie, der Ballonflieger, in Gestalt von Gert Voss über der Szene hängt, wie die Figuren auf einer Eisfläche taumelnd und Halt suchend dahin gleiten und wie am Ende der Titelheld zusammen mit seinem Freund Balcke im Eis versinkt.

Die drei Schauspielstudenten haben in dieser minimalistischen Inszenierung nur wenig Fleisch, um ihr Talent zeigen zu können. Und doch sind deutliche Begabungsunterschiede zu erkennen. Während Andy Klinger als Georg Heym kaum über nachdrückliches Sprechen hinauskommt, gelingt es Patrick Bartsch aussagefähige Figurenumrisse anzudeuten, wenn er seinen Bestarbeiter Kasimir in der Bestarbeiterparodie "Kasimir und Margarethe" mit Detailversessenheit, Erfinderstolz und einer Prise Großmäuligkeit ausstattet.


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