Coldplay mit neuem Doppelalbum

"Diffuser Multikulturalismus"

09:31 Minuten
Coldplay-Sänger Chris Martin bei einem Konzert in Mailand.
Verkauft immer noch viele Platten: Coldplay-Sänger Chris Martin. © picture alliance/Marco Cinquetti/NurPhoto
Dirk Schneider im Gespräch mit Vivian Perkovic · 22.11.2019
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Coldplay konkurriert mit U2 um den Status "meistverkauft" und "meistverachtet". Den Briten um Sänger Chris Martin wirft man einfallslosen Wohlfühlpop ohne Tiefgang vor. Jetzt legt die Band ihr neues Doppelalbum "Everyday Life" vor. Kein Glückstreffer.
"Everyday Life", das neue Album von Coldplay, ist ein Doppelalbum, mit zwei Teilen, die dem Sonnenauf- und dem Sonnenuntergang gewidmet sind, zweimal acht Stücke - das klingt sehr nach einem Konzeptalbum. Was hält Kritiker Dirk Schneider davon? "In einem Interview mit der BBC hat Chris Martin die Gleichheit aller Menschen betont, und so soll man das wahrscheinlich verstehen: Wir alle haben unseren Alltag, unser 'Everyday Life', vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, egal ob im Krieg oder im Wohlstand", sagt Schneider.
Für ihn bietet das Doppelalbum wenig Überraschendes. Wie üblich blieben Coldplay in ihren Aussagen aber "möglichst unklar" – darüber hinaus habe die Band im Umgang mit schwierigen Themen selten eine glückliche Hand bewiesen, kritisiert Schneider: "Nehmen wir mal das Stück 'Orphans'. Es ist völlig unklar, warum das einer der schmissigsten Songs auf dem Album ist, mit einem launigen 'Whoo-hoo'-Refrain. Geht es darin doch um die Klage eines Menschen aus Syrien, der sich fragt, wann endlich keine Bomben mehr fallen und er heimkehren kann. Und da sind wir schon an so einem Punkt: Warum singt der große Weltversteher Chris Martin, der gerne mit Musikerinnen aus aller Welt arbeitet, von der Sehnsucht eines Syrers, einer Syrerin, nach Heimkehr? Warum nicht zum Beispiel von der Hoffnung und dem Recht auf ein gutes Leben in Europa?"

"Latenter Exotismus und Rassismus"

Auch schmücke sich die Band in einem Lied mit der Beteiligung der nigerianischen Sängerin Tiwa Avage, "ohne sie wirklich teilnehmen zu lassen – denn in dem Song sei sie tatsächlich kaum zu hören. Bedenklich findet Schneider auch den "latenten Exotismus und Rassismus" der Band. Dieser Eindruck entstehe, wenn man sich im Netz gestreamte Auftritte von Coldplay etwa in Jordanien anschaue: Die Band trete in "Alltagsklamotten" auf, während eine Bläsersektion aus schwarzen Musikern im Hintergrund in Batikhemden zu sehen sei.
Schneider hat noch weitere Merkwürdigkeiten entdeckt. Aber: "Diese Band ist eine Marke, die sich etabliert hat und die sich verkauft, und darum wird sie am Leben erhalten." Und zum Kern der Marke Coldplay gehöre eben "diffuser Multikulturalismus".
"Aber um nicht völlig unversöhnlich zu enden: Ein anrührendes Stück gibt es, es trägt den Titel 'Daddy', es ist aus der Perspektive eines Kindes geschrieben, das sich seinen Vater zurückwünscht, der aus irgendwelchen Gründen verschwunden ist. Und wenn hier nicht kitschigerweise unter den gesamten Song der Sound eines Herzschlags gelegt wäre, könnte man diese kleine, sehr schlicht gehaltene Klavierballade wirklich gut durchgehen lassen." Und wirklich sehr hübsch sei der Song "Cry Cry Cry", der zusammen mit dem jungen britischen Musiker Jacob Collier entstanden sei.
(mkn)
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