Cognacschwenken in Ostberlin

24.07.2009
Chaim Noll liefert in seinem erstmals 1989 erschienenen und nun wieder aufgelegten Roman "Der Goldene Löffel" eine beklemmende Innenaufnahme der DDR-Oberschicht in den 70er-Jahren. Er schildert das Leben des Sohnes eines parteitreuen DDR-Intellektuellen.
Seit vielen Jahren heißt er Chaim Noll und lebt mit seiner Familie in Israel. Bekannt geworden aber war der 1954 als Hans Noll in Ostberlin geborene Schriftsteller zuerst einmal als renitenter, 1983 in die Bundesrepublik übergesiedelter Sohn des prominenten und radikal regimetreuen DDR-Autors Dieter Noll, an dessen einst in den Schulen gelesenen "Werner Holt" sich vermutlich noch so mancher erinnern wird. Bereits kurz nach seiner von den üblichen Schikanen begleiteten Ausreise aus der DDR schrieb Hans Noll dann sein halb Abrechnungs-, halb Erinnerungsbuch "Der Abschied". Seine Erfahrungen aus dem Inneren der DDR-Oberschicht, wo sich hohe und höchste Parteifunktionäre zusammen mit machtverfallenen Künstlern verbrüderten, zerstritten und etwaige noch vorhandene Skrupel in Massen (west-importierten) Alkohols ertränkten, diese Erfahrungen ließen Noll jedoch auch im Westen nicht los, und so erschien 1989 in der Deutschen Verlagsanstalt der Schlüsselroman "Der goldene Löffel".

Wer jedoch wollte ausgerechnet im Herbst ´89 noch ein packend psychologisches Kammerspiel über Verführbarkeit, feinziselierten Verrat und ganz ordinäre Bonzengewalt lesen, wo doch gerade die Weltgeschichte Bocksprünge machte und die gesamte DDR ohnehin auf ihr verdientes Ende zusteuerte?

Kurz: Der Roman erhielt einige preisende Rezensionen, ging jedoch gleichwohl hoffnungslos unter. Nun, 20 Jahre später, erscheint er erneut – und zwar, kleine ironische Pointe, im eher undogmatisch-linken Berliner Verbrecher Verlag. "’Der Goldene Löffel’ ist das Buch eines jungen Mannes", schreibt Chaim Noll in seinem aktuellen Nachwort. "Mein Gefühl, dass die Verhältnisse, die ich beschrieb, ihrem Ende zugingen, zeitigte eine Komprimiertheit des Stils, eine Geschwindigkeit im Duktus der Erzählung: atemlos aufeinander folgende Augenblicksaufnahmen, Dialoge, Reflexionen."

Fast scheint es, als sei dies dem inzwischen in der Wüste Negev lebenden Autor mit der Zeit etwas fremd geworden. Der neugierige Leser jedoch hat eine veritable Trouvaille vor sich, einen rasanten Berlin-Roman nämlich, dessen zweifelhaftes Figuren-Ensemble alles andere als verstaubt wirkt. Im Gegenteil: Eher ist es so, dass das humane (jedoch nie selbstgerechte) Erschrecken des jungen Ich-Erzählers noch heute packt, noch immer erschüttert angesichts der menschlichen Schäbigkeit einer selbsternannten Avantgarde des Proletariats. Gleichzeitig gelingt Noll das Kunststück, den geistigen und atmosphärischen Mehltau, den er beschreibt, nicht etwa als redlich-dokumentarische Ödnis an den Leser weiter zu geben, sondern – sofern die etwas verrutschte Metapher hier erlaubt ist – selbst aus dem Grau des pseudo-elitären Ostberlins noch literarische Funken zu schlagen. Dachte man, es wäre bereits alles bekannt über die diversen Lebenswelten der verschwundenen DDR und alles ginge tatsächlich auf im Symbol verbogenen Alu-Bestecks? "Der goldene Löffel" jedenfalls erzählt von einer anderen, (mit der gewichtigen Ausnahme von Monika Marons "Stille Zeile sechs") kaum je thematisierten Welt – voller Cognacschwenker, Valuta, Westreisen und einem geschichtsphilosophisch immer löchriger zugekleisterten Abgrund von Niedertracht. Chaim Nolls 20 Jahre alter Niedergangs-, gleichzeitig jedoch auch vitaler Selbstbefreiungs-Roman verstört und fasziniert noch immer.

Besprochen von Marko Martin

Chaim Noll: Der Goldene Löffel
Roman
Verbrecher Verlag, Berlin 2009
265 Seiten, 13 Euro