"Clockwork Orange" am Schauspiel Frankfurt

Wie ein tollwütiges Tier

Szene aus "Clockwork Orange" in Frankfurt mit Lukas Rüppel, Vincent Glander, Jan Breustedt, Felix Rech, Torben Kessler
Szene aus "Clockwork Orange" in Frankfurt mit Lukas Rüppel, Vincent Glander, Jan Breustedt, Felix Rech, Torben Kessler © Foto: Birgit Hupfeld / Schauspiel Frankfurt
Von Alexander Kohlmann · 07.05.2016
Wer an Anthony Burgess' Roman "Clockwork Orange" denkt, landet schnell bei den artifiziellen Bildern der Kubrick-Verfilmung. Regisseur Christopher Rüping hat den Stoff jetzt am Schauspiel Frankfurt in ein rein theatrales Spektakel verwandelt − und in eine Gewaltorgie, bei der die Zuschauer in einer Versuchsaufstellung zu Komplizen werden.
Eingesperrt in einen gläsernen Käfig, wie ein wildes Tier, wird Alex in das Auditorium geschoben. Wütend wie ein Zombie hämmert der Mann mit den Albino-blonden Haaren (Jan Breustedt) gegen die Scheiben. Kein Zweifel, das Versuchsobjekt ist gefährlich. Die Zuschauer gucken interessiert diesem Experiment zu. Einige essen bereitgestellte Snacks, alle sind in Christopher Rüpings neuer Inszenierung Teil des Spektakels. Ein riesiges, anatomisches Theater hat das Regie-Team in das Bockenheimer Depot des Schauspiel Frankfurt bauen lassen. Ein Halbrund aus steil aufsteigenden Sitzreihen, hölzernen Geländern − und im Zentrum eine Bühne, auf der vier Ärzte gleich zu Beginn mit der Attitüde von Showmastern ein Experiment ankündigen. Ein Gewalttäter soll mit einer neuartigen Pille gezähmt werden − wie ein tollwütiges Tier.
Um die Bösartigkeit ihres Versuchsobjektes zu zeigen, verlesen die furchtbaren Mediziner zunächst dessen Tagebuch. "Clockwork Orange" ist im Original in der Ich-Form geschrieben, die brutale Geschichte von Alex und seiner Gang wird zum Selbstzeugnis einer Gewaltnacht, die die Spieler auf der Bühne bald nacherleben, sich gegenseitig mit Blut bespucken, kämpfen, raufen und durch die Gegend streifen wie ein Rudel Wölfe im Zoo. Und sich in Alex' Opfer verwandeln, dem Obdachlosen, der auf einem mit Plastik-Tüten behangenen Fahrrad um das Auditorium kreist. Oder dem Schriftsteller mit Nickelbrille und Wollpullover, dessen Frau Alex' Gang vor dessen Augen zu Tode vergewaltigt und der sich losreist, um wütend jeden einzelnen dieser Menschen um Gnade anzuflehen, vergeblich.
Dazu gibt es Essen. Immer wieder reichen zwei Assistenten, die mit ihren rosa Perücken unverkennbar an Kubricks Film-Fassung erinnern, kleine Schälchen mit Häppchen durch die Reihen. Während auf der Bühne auf brutalste Weise gemordet wird, essen wir. So gelingt es Rüping immer wieder, uns zu Komplizen des Gewaltpornos zu machen, der Anthony Burgess' Text immer auch ist. Dabei bleibt durch die Fokussierung auf die Versuchsanordnung den ganzen Abend eine Frage im anatomischen Raum: Was macht Alex zu einem bösen Menschen − und was unterscheidet ihn von den Zuschauern, die das Spektakel zum Zeitvertreib verfolgen?
Dass es im zweiten Teil dann vollends surreal wird, ein riesiges schräges Wohnzimmer herein fährt und Alex bei genau dem Schriftsteller unterkommt, dessen Frau er einst getötet hat, hätte es vor diesem Hintergrund gar nicht zwingend gebraucht. Der Abend funktioniert bereits erschreckend gut mit seiner Interpretation des Burgess-Romans als Versuchsaufstellung, die auch diejenigen Zuschauer verführt, die letztlich mit Vergnügen der Schilderung des Helden Alex folgen.
Dass Rüping in der Erzählung dieser Geschichte beharrlich von einer Ästhetik in die andere springt und sich rastlos fast aller Erzählmittel des Regietheaters verwendet, könnte man ihm vorwerfen. Man kann aber auch einfach konstatieren, dass dieser Regisseur mit allen zur Verfügung stehenenden theatralen Mitteln diese Geschichte erzählen will, genau wie der immer wieder als Referenz herangezogene Stanley Kubrick den Stoff in seiner Adaption in eine rein filmische Erzählung verwandelte.
Die zitiert Rüping zwischendurch auch noch spielend. Etwa wenn die Alex-Gang, in ein eingefrorenes Bild verwandelt, ganz am hinteren Ende der riesigen Halle hinter Nebelschwanden auf den Beginn einer neuen Mord-Orgie wartet − und wir für einen Moment Kubricks berühmte Eröffnungsszene in der Corona-Milchbar vor dem inneren Augen sehen. Doch dann laufen sie schnell nach vorne und entpuppen sich als Schauspieler. Wir sind im Theater.
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