Claude Debussy

"Nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang"

Zeitgenössische Aufnahme des französischen Komponisten Claude Debussy. Debussy wurde am 22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye geboren und starb am 25. März 1918 in Paris. |
Zeitgenössische Aufnahme des Komponisten Claude Debussy © B0173_Belga / pa / dpa
Von Sabine Fringes · 24.03.2018
Mit seinen fremdartigen, sphärischen Klängen hat Claude Debussy die Musik erneuert. Die eigentümlichen Harmonien in Werken wie "Prélude à l'après-midi d'un faune" und "La mer" verblüfften seine Zeitgenossen - und leiteten eine neue Ära ein.
"Die Musik", fand Debussy, "ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente am Unendlichen teilhaben. Sie lebt in der Bewegung des Wassers, im Wellenspiel wechselnder Winde; nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang!"
So eigen wie sein Werk war auch Debussys Charakter. Fast sein ganzes Leben lang verbrachte der Komponist in Paris, wo er in Cafés und Bars jahrelang das Leben eines Bohémiens führte und eher mit Dichtern und Malern verkehrte als mit Musikern. Doch immer wieder fuhr er ans Meer, das er als seine eigentliche Heimat empfand.
Anlässlich von Claude Debussys 100. Todestags wandelt die Lange Nacht auf seinen Spuren.

Wie Debussy zu seiner Musik fand

Wie wurde aus dem Aristokraten "Achille de Bussy" – wie er sich in jungen Jahren nannte – Claude Debussy?
Der Dirigent Francois Xavier Roth: "Das ist ein junger Debussy, die 'Premiere Suite'. Und das war sehr interessant für uns zum ersten Mal zu spielen. Weil das ist ein Teil von Debussy, den wir nicht so gut kennen, das kommt aus einer französisch-romantischen Tradition: Massenet, Gounod, Chabrier waren wichtig für ihn. Klar, es ist noch nicht Debussy, wie wir ihn kennen, aber es ist Teil von seinem Leben."
Mit seinem Orchester "Les Siècles" spielte François-Xavier Roth 2012 erstmals ein Jugendwerk Debussys ein. Komponiert hat es Debussy mit Anfang zwanzig.
"Und wir spielen Instrumente, die Debussy zu seiner Zeit kannte. Bläser, Schlagzeug. Für die Streicher spielen wir mit Darmsaiten. Also das ist ein Orchester, wie Debussy es erlebt hat. Die Streicher-Ton ist viel weicher, viel runder – und man kann das sofort merken, ah, es ist etwas anders. Wenn man nicht weiß, dass es Debussy ist, könnte man sagen, es sei von Gounod oder Massenet."
Der Franzose Francois-Xavier Roth dirigiert.
Der französische Dirigent Francois-Xavier Roth © picture alliance / Patrick Seeger
François-Xavier Roth gehört zu den charismatischsten und mutigsten Dirigenten seiner Generation. Sein Repertoire reicht von der Musik des 17. Jahrhunderts bis zu zeitgenössischen Werken und umfasst alle Gattungen: sinfonische Musik, Oper und Kammermusik. Im Jahr 2003 gründete er das innovative Orchester "Les Siècles", das sowohl auf neuen wie auf alten Instrumenten musiziert, je nach Werk und oftmals im Wechsel während des gleichen Konzertes. Von 2011 bis 2016 war François-Xavier Roth Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Seit September 2015 ist er Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor der Stadt Köln. Seit dieser Spielzeit ist er Erster Gastdirigent des London Symphony Orchestra.
Weiterlesen

"Dieses Kind muss Musiker werden"

Claude Debussy: "Ich erinnere mich an die Eisenbahn, die vor unserem Haus vorbeifuhr und an das Meer am fernen Horizont, was in einigen Momenten zu dem Eindruck führte, dass die Eisenbahn aus dem Meer herauskam oder in es hineinfuhr. Dann ist da auch die Straße nach Antibes, wo es so viele Rosen gab. Der Duft war wirklich betörend."
Den ersten professionellen Klavierunterricht erhält er 1871 von Madame de Fleurville, die sich rühmt, Schülerin Chopins gewesen zu sein.
Sie findet: "Dieses Kind muss Musiker werden."
Schon ein Jahr später wird Debussy mit gerade mal zehn Jahren als Schüler in das Pariser "Conservatoire National Supérieur" aufgenommen, die wichtigste Musik-Ausbildungsstätte Frankreichs. Einer seiner damaligen Mitschüler ist der Komponist und Dirigent Gabriel Pierné:
"Er war ein beleibter Junge, klein, stämmig und untersetzt. Er trug eine schwarze Jacke, die durch eine weichfließende, gepunktete Krawatte und eine Samthose aufgelockert wurde. Seine Unbeholfenheit, seine Ungeschicklichkeit waren außergewöhnlich; er wirkte schüchtern und fast scheu.
Er war ein Gourmet. Er liebte die guten Dinge und scherte sich wenig um die Quantität. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie er eine Tasse Schokolade genoss, zu der ihn meine Mutter nach dem Unterricht bei Prevost eingeladen hatte oder an die Art, wie er bei Boubonneux in der Vitrine, die den Luxusprodukten vorbehalten war, ein winziges Sandwich oder ein kleines Förmchen mit Makkaroni-Auflauf wählte, anstatt – wie seine Kameraden – nahrhafteren Kuchen zu bestellen.
Dieses mittellose Kind, das den einfachsten Kreisen entstammte, hatte in allem einen aristokratischen Geschmack.
In der Klavierklasse von Marmontel versetzte er uns mit seinem sonderbaren Spiel in Erstaunen. War es eine angeborene Ungeschicktheit oder Schüchternheit - ich weiß es nicht, aber er hackte buchstäblich auf das Klavier ein und übertrieb jeden Ausdruck. Er schien wie von einer Wut gegen das Instrument gepackt, traktierte es mit impulsiven Gesten, atmete laut bei schwierigen Passagen. Seine Schwächen legten sich mit der Zeit, und er erzielte manchmal Wirkungen von überraschender Sanftheit. Mit all seinen Fehlern und Vorzügen blieb sein Spiel etwas ganz Besonderes."
Der Klavierprofessor und Debussy-Forscher Bernd Goetzke:
"Debussy war in jeder Hinsicht ein besonderer Mensch, und das interessante ist, von allem Anfang an. Und er ist ja im Grunde weitgehend autodidaktisch ausgebildet, er hat zwar am Konservatorium studiert, aber er hat da mehr abgelehnt als angenommen, was er studieren sollten und hat ganz, ganz viel aus sich selbst heraus entwickelt. Er war von allem Anfang an zu allererst ein Nonkonformist. Er hat ja im Grunde immer "Warum?" gefragt, wenn ihm jemand was beibringen wollte am Konservatorium, Cesar Franck zum Beispiel. "Modulieren Sie, modulieren Sie!" Dann fragte er: "Warum?" Wenn ich mich gerade wohlfühle in einer Tonart? Warum soll ich Regeln beachten, die andere Menschen vor 200 Jahren für Menschen gemacht haben. Warum kann ich die nicht in Frage stellen?"
Zeitgenössische Aufnahme des französischen Komponisten Claude Debussy. Debussy wurde am 22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye geboren und starb am 25. März 1918 in Paris. |
Zeitgenössische Aufnahme des Komponisten Claude Debussy© B0173_Belga / pa / dpa

Den eigenen Weg finden

Nach der Rückkehr aus Rom, ist Debussys Hauptsorge, "seinen eigenen Weg zu finden". Und er findet seinen Weg, indem er seinem Vergnügen folgt. Wie viele Franzosen, so packt auch ihn das Wagner-Fieber mehr und mehr – und Debussy fährt nach Bayreuth, um sich den "Parsifal" und "Tristan und Isolde" anzusehen.
Mit großer Faszination lauscht er den Klängen eines Gamelanorchesters auf der Weltausstellung 1889 – und lässt sie bald auch in seine Musik einfließen. Er liebt es, sich in Cafés oder im Cabaret zu treffen, mit einem auserwählten Freundeskreis, wozu auch Erik Satie zählt. Oder der Komponist Raymond Bonheur, mit dem er schon vor seinem Romaufenthalt gut befreundet war.
In Debussys erstem Satz der "Nocturnes" erkennt Bonheur den Zauber des nächtlichen Paris jener Jahre wieder. Der Komponist Raymond Bonheur:
"So war er mir also erschienen: verschlossen und ein wenig distanziert, mit einem bereits sehr ausgeprägten Geschmack für alles Seltene und Wertvolle; übrigens besonders reizend trotz einer gewiss brüsken Art beim ersten Kontakt.
Und so fand ich ihn einige Jahre später nach seiner Rückkehr aus Rom eines Abends in der Brasserie Pousset wieder, wo er gern noch spät saß, mit seiner Stirn, dieser starken Stirn eines Fauns von sonderbarem Profil –nach vorngewölbt wie der Bug eines Schiffes – seinen von zusammengezogenen Brauen verdüsterten braunen Augen, die, starr vor sich hin in die Ferne blickend, einen imaginären Punkt fixierten, während er mit dem Zeigefinger mit einer ihm eigenen Geste die Asche seiner Zigarette abstreifte.
So wie es vielen Leuten ergeht, die durch Gemeinplätze nicht zufriedenzustellen sind, so war auch seine Rede stockend, und er drückte sich meist mit einem leicht lispelnden Zungenschlag aus, in kurzen, abgehackten und unvollständigen Sätzen, manchmal einsilbig und gereizt nach dem richtigen Wort für eine Nuance suchend. Wenn die Brasserie geschlossen wurde, streiften wir durch die verlassenen Straßen von Paris, ganz dem Charme der Pariser Nächte ergeben, dessen einnehmende Sanftheit, Wollust und Geheimnis im ersten Nocturne Ausdruck finden. Mit seinem dunklen Haar, seiner sinnlichen Nase und seinem blassen Gesicht, das von einem lichten Bartkranz eingerahmt wurde, erinnerte Debussy zu dieser Zeit an eines der noblen Portraits von Tizian und man konnte sich ihn leicht in dem prunkvollen Dekor eines venezianischen Adelspalastes vorstellen."

Ein Fragebogen, den Debussy 1889 ausfüllte

Welche Eigenschaft bewundern Sie bei einem Mann am meisten?
Willenskraft.
Welche Eigenschaft schätzen sie bei Frauen am meisten?
Charme (Anmut).
Was zeichnet Ihr Aussehen aus?
Mein Haar.
Was ist Ihre Vorstellung von Glück:
Zu Lieben.
Vom Unglück?
Es zu heiß zu haben.
Ihre Lieblingsfarbe und Blume?
Violett. Veilchen.
Was wären Sie am liebsten geworden?
Maler.
Wenn nicht Sie selbst, wer würden Sie sein wollen?
Ein Seemann.
Ihre Lieblings Dichter:
Baudelaire.
Ihre Lieblings-Maler und Komponisten:
Gustave Moreau, Palestrina, Bach, Wagner.
Die Antworten des damals Siebenundzwanzigjährigen auf einen Fragebogen, der 1889 im Salon des Dichters Stéphane Mallarmé die Runde machte. In ihm spiegelt sich nicht nur der junge Debussy wieder: Auch in späteren Jahren kommt er immer wieder darauf zurück, dass er gerne Seemann – oder Maler geworden wäre. Mehr noch als Claude Monet oder Auguste Renoir beeindrucken ihn angloamerikanische Maler, wie William Turner und James Whistler. Debussy bewundert ihre Kunst, Landschaften in Licht zu tauchen oder eine Meeresstimmung einzufangen. Ein wenig wehmütig wird Debussy hingegen in späteren Jahren an jene "zauberhafte Zeit" zurückdenken, da er noch ein "fanatischer Wagnerverehrer" gewesen war.
Ihre Lieblingsbeschäftigung:
Lesen, während ich feinen Tabak rauche.
Wo möchten Sie leben?
Egal wo. Außerhalb der Welt.
Ihre Lieblingsschriftsteller?
Flaubert. Edgar Allan Poe.
Lieblingsessen und Getränk.
Russische Küche. Kaffee.
Was verabscheuen Sie am meisten?
Dilettanten, Frauen, die zu schön sind.
Ihr gegenwärtiger Geisteszustand?
Traurig und grüblerisch.
Welche Fehler verzeihen sie am leichtesten?
Harmoniefehler.
Ihr Motto:
Immer höher.

Sein alter Ego: Monsieur Croche

Debussy fasziniert seine Zeitgenossen, unendlich viele Portraits und Anekdoten gibt es über ihn. Doch wie sah Debussy sich selbst? Vielfältigen Aufschluss geben seine Musikkritiken, die er – aufgrund von finanziellen Engpässen – ab 1901 zu schreiben beginnt. Um kein Blatt vor dem Mund nehmen zu müssen, erfindet er ein Alter Ego: Monsieur Croche, zu deutsch: Herr Achtelnote.
Monsieur Croche: Haben Sie schon einmal die Feindseligkeit des Publikums im Konzertsaal bemerkt? Haben Sie sich je diese Gesichter angeschaut, grau vor Langeweile, Gleichgültigkeit, ja Stumpfsinn? Diese Leute, mein Herr, wirken immer wie mehr oder weniger gut erzogene Gäste: Sie erfüllen geduldig ihre langweilige Pflicht und harren nur deshalb aus, weil sie am Ausgang gesehen werden wollen; warum wären sie sonst gekommen? Sie müssen mir doch zugeben, dass es Dinge gibt, die einem für immer die Freude an der Musik vergällen können.
Claude Debussy: Als ich daraufhin einwandte, dass ich schon sehr beachtliche Begeisterungsausbrüche erlebt, ja mich sogar selber daran beteiligt hätte, gab er zu Antwort:
Monsieur Croche: Sie stecken voller Irrtümer, und wenn Sie so viel Begeisterung gezeigt haben, geschah es mit dem geheimen Hintergedanken, dass man Ihnen eines Tages die gleiche Ehre erweisen möge! Sie sollten doch wissen, dass das echte Empfinden von Schönheit stumm macht. Wenn Sie das prachtvolle Schauspiel des Sonnenuntergangs betrachten, das sich Tag für Tag vollzieht, kommt es Ihnen da je in den Sinn, Beifall zu klatschen? Aber vor einem sogenannten Kunstwerk fangt ihr euch wieder und habt euren klassischen Jargon zur Hand, mit dem ihr nur so um euch werft.
Der Klavierprofessor und Debussy-Forscher Bernd Goetzke:
"Was wichtig ist bei Debussy, ist natürlich sein Werdegang, als musician francais, als das was er praktisch als Berufsbezeichnung am Ende für sich gefunden hat, wie er dazu gekommen ist, da sind ja die Wurzeln sehr tief und das hat auch sehr viel mit deutscher Musik zu tun und dem Sich- Positionieren gegen Wagner, da ist eine Linie, die sich durch sein Leben zieht, auf den in den Briefen auch immer wieder in irgendeiner Weise Bezug genommen wird. Man hatte Wagner erlebt, Wagner war Kult, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, und der größte Wagnerianer war Debussy selbst. Interessanterweise kein blinder Schwärmer wie so viele, sondern er hat das genauestens studiert.
Und dann kam aber die Frage, 'Bin ich jetzt dazu bestimmt, eine Art Wagner 2.0 zu werden? Oder habe ich nicht doch etwas anderes in meinem Leben zu tun?' Deshalb glaube ich, ist es auch ein intellektueller Prozess bei ihm gewesen, der in zum Nachdenken gebracht hat, 'Wo sind meine Wurzeln?' Couperin, Rameau, die französische Tradition, und "Da ist auch meine Zukunft. Ich habe der französischen Musik etwas wiederzugeben, was unterwegs in der Musikgeschichte verloren gegangen ist". Und darüber hat er nachgedacht."

Ein Briefwechsel mit seinem Verleger Jaques Durand

Mein lieber Freund,

Sie erhalten mit gleicher Post die Korrekturen von Pelléas auf deutsch. Die Übersetzung ist perfekt, fast alle Akzente sind an ihrem Platz, und das ist wirklich ein Kraftakt. Im Übrigen ist der deutsche Text poetischer als der französische. Geben Sie zu, dass wir so viel gar nicht verlangten!
Ich bin hier wieder zurück bei meinem alten Freund, dem Meer; es ist immer noch unendlich und schön. Dies ist wirklich der Teil der Natur, der uns am besten wieder zurechtrückt. Nur respektiert man das Meer nicht genug ... Es sollte nicht erlaubt sein, solche vom täglichen Leben deformierten Körper hineinzutauchen: all diese Arme und Beine, die sich in lächerlichen Rhythmen bewegen, können wahrhaftig die Fische zum Weinen bringen. Im Meer dürfte es nur Sirenen geben; und wie stellen Sie sich vor, dass diese ehrenwerten Personen einverstanden wären, in Gewässer mit so schlechtem Publikum zurückzukommen?
Meiner Frau geht es nicht besonders gut, im Grunde ist sie ja ein Stadtmensch, gewöhnt, kosmopolitische Luft zu atmen, – jene des Meeres, das sie dennoch liebt, setzt ihr ein bisschen zu. Chouchou lässt sich alles gefallen und fordert zahlreiche Opfer unter den skurrilen Krebsen, den netten Garnelen, die so niedlich unter ihren ungarischen Schnurrbärten aussehen.
Unsere gewohnte Zuneigung für Sie und Madame Durand. Ihr alter ergebener Claude Debussy.
Bernd Goetzke: "Debussy nannte sich selbst 'einfach wie ein Grashalm'. Diese Formulierung hat er mehrfach benutzt. "Ich bin doch einfach wie ein Grashalm". Die Wahrheit ist natürlich das Gegenteil. Er war hochkompliziert, aber ich verstehe ein bisschen, warum er sich "einfach" nannte, weil er wollte ja nur eines: er wollte komponieren. Und dann erlebt man in dem Briefwechsel die Fülle von Konflikten, durch die er durchzugehen hatte, die sein ganzes Leben bestimmten und sein Leben auch sehr schwer gemacht haben. Und darüber erfährt man sehr viele Einzelheiten."
Der Pianist hat erstmals sämtliche Briefe, die Debussy an seinen Verleger Jacques Durand schrieb, ins Deutsche übersetzt.
Die Homepage von Prof. Bernd Götzke
Buchtipp:

Claude Debussy. Briefe an seine Verleger. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Bernd Goetzke. Mit einem Geleitwort von Denis Herlin.
Im Anhang: Auszüge aus den Erinnerungen von Jacques Durand (1924/1925).
2018, 476 Seiten, mit Notenbeispielen und 2 Abbildungen.
Hardcover. Reihe: Musikwissenschaftliche Publikationen, 47
Bernd Goetzke, Kenner der französischen Musikkultur, lehrt als Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover sowie weltweit in Meisterkursen; Schüler von Arturo Benedetti Michelangeli, bezeichnet Debussy und Beethoven als die "Brennpunkte" seines Repertoires. Zu seiner Biographie gehört die Verwurzelung in der französischen Kultur, Sprache und Musik von Jugend an.

Ein facettenreiches Komponistenleben

Bernd Goetzke: "Das war tatsächlich so, dass ich das Gefühl hatte, ihn schon zu kennen, durch die Musik und nun vieles bestätigt fand und nun endlich auch genau wusste. Man lernt einen Menschen durch nichts besser kennen als durch seine Briefe, vor allem, wenn man eine Fülle von Briefen liest. Wenn man einen einzelnen Brief aus dem Zusammenhang heraus reißt, dann ist das nicht gegeben, aber wenn man 500 Briefe von ihm liest, dann kennt man diesen Menschen wie ein Familienmitglied.
Ein facettenreiches Komponistenleben liegt vor dem Leser ausgebreitet. Es geht um Werke, die Debussy nicht fristgerecht abliefert oder die er schließlich, nach Jahren der Arbeit, verwirft. Darunter eine Oper nach Edgar Allen Poes Erzählung 'Der Untergang des Hauses Usher', an der er 25 Jahre lang arbeitet ohne sie zu beenden.

Es geht um Vorschüsse und Krankheiten. Um Chouchou, die geliebte Tochter - und um seine Frau, die sich nicht wohlfühlt. Und um Paris, "die Stadt der Nervensägen." Überhaupt ist immer wieder die Rede von Nerven, von zusammengeschnürten Nerven, Nerven-Triolen, Nerven, die aus dem Takt geraten sind, Nerven-Bündeln - und Nerven-Knäueln. Debussy bezeichnete sich selbst als einen Neurastheniker, ein Begriff den der New Yorker Neurologe George Beard um 1880 aufgebracht hatte. Ein Leiden, das viele mit den Auswirkungen der "elektrischen Revolution" in Verbindung brachten - ähnlich dem heutigen Burnout im digitalen Zeitalter."

Claude Debussy im Briefwechsel mit Jaques Durand:
Im Übrigen ist ein Künstler definitionsgemäß ein Mensch, für den der Traum Normalität ist und der zwischen Phantomen lebt. Wie stellt man sich vor, dass derselbe Mensch durch das tägliche Leben gehen kann unter strikter Beachtung der Traditionen, Gesetze und anderer Barrieren, die von der heuchlerischen und feigen Welt errichtet worden sind? Alles in allem lebe ich in der Erinnerung und im Bedauern. Das sind zwei traurige Begleiter! Sie sind treu, diese beiden – mehr als die Freude und das Glück!

Das Arbeitszimmer des Meisters

Jaques Durand: "Ich sehe noch das Arbeitszimmer von Debussy vor mir und sein charmantes Stadthaus in der Nähe der Porte Dauphine, Avenue du Bois de Boulogne. Es war in diesem Zimmer, in dem er mir so schöne Werke zu Gehör gebracht hat, mit magischen Harmonien, die geniale Ideen umhüllten. Debussy arbeitete umgeben von Blumen, Winter wie Sommer; sein Zimmer war davon überfüllt. Dies war eine Symphonie in Farben, die in Klänge umgewandelt wurde. Indem ich mich wieder an diese Blütenpracht erinnere, kommt mir der Vers von Baudelaire in den Sinn: "Les sons et les parfums tournent dans l’air du soir" - Klänge und Düfte wehen durch die Abendluft – ein Vers, dem Debussy mit einem seiner bewunderungswürdigen Préludes ein Denkmal gesetzt hat.
Das Arbeitszimmer des Meisters lag im Erdgeschoss, es war mit großflächigen Fenstern ausgestattet, durch die es mit Licht überflutet wurde; es öffnete sich zum Garten, der das Haus umgab. Der große Tisch, an dem Debussy Meisterwerke schrieb, war überhäuft mit japanischen Objekten von bestem Geschmack, darunter sein Lieblingsstück, eine Porzellankröte, die er als seinen Fetisch bezeichnete und die er auf seinen Reisen mitnahm, wobei er vorgab, ohne seinen Anblick nicht arbeiten zu können. Wie oft hat er mir gegenüber seinen Verdruss über die Schwierigkeit zum Ausdruck gebracht, seinen Arbeitstisch in die Ferien mitzunehmen.
Debussy war ein sesshafter Mensch: Veränderungen waren ihm ein Graus. Er liebte sein Klavier, ein Instrument bester Qualität, das er traumhaft spielte. Ich erinnere mich auch, dass es in diesem Arbeitszimmer einen bestimmten Farbstich von Hokusai gab, der eine große brechende Welle zeigte. Debussy hatte eine besondere Vorliebe für diese Welle; er hatte sich von ihr inspirieren lassen, als er "La Mer" komponierte; er bat uns, sie auf dem Deckblatt der Ausgabe seines Werks reproduzieren zu lassen." Quelle
Hokusais Farbholzschnitt "Die große Welle vor Kanagawa". Das Bild wurde häufig aufgegriffen und gilt als Ikone.
Hokusais Farbholzschnitt "Die große Welle vor Kanagawa". Das Bild wurde bereits vielfach durch andere Künstler aufgegriffen und gilt als Ikone.© © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

"La mer"

Francoix Xavier Roth: "'La mer' ist ein wichtiges Stück in Musikgeschichte, zuerst ist es ein erstes Statement, was ist wirklich in dieser Zeit eine französische Symphonie. Man hat in Frankreich immer diesen Komplex zu vergleichen: Die deutschen Komponisten wie Brahms, Mahler, oder Bruckner. Wie kann man Symphonien schreiben in unserer französischen Kultur?"

Zusammen mit seinem Orchester "Les siècles" hat der Dirigent "La mer" mit einem historischen Instrumentarium aus Debussys Zeiten eingespielt. Anhören
Francoix Xavier Roth: "Es ist etwas sehr besonderes, sehr französisch. 'La mer' ist auch unser Musik-Erbe in Frankreich. Das ist phänomenal. Diese neuen Farben, das ist wirklich seine Erfindung. 'La mer' gilt bis heute als eine der schwierigsten Orchesterpartituren überhaupt. Einer Welle gleich fließt ein und dieselbe Linie durch den Klangkörper. Auf geheimnisvolle Weise scheint das Werk sich selbst anzutreiben."

Claude Debussy: Die Musik ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente am Unendlichen teilhaben. Sie lebt in der Bewegung der Wasser, im Wellenspiel wechselnder Winde; nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang! Für den, der mit dem Herzen schaut und lauscht, ist das die beste Entwicklungslehre, geschrieben in jenes Buch, das von den Musikern nur wenig gelesen wird: das der Natur.
Bernd Goetzke: "Ich hatte noch in Deutschland eine Zeit erlebt, in der man mir Debussy austreiben wollte. 'Nein, das ist morbide Musik, das ist nichts für uns, und außerdem können wir das nicht.' Ja, das hörte man noch nach dem Krieg. Und wie gesagt, das ist glücklicherweise vorbei. Und da war das große Missverständnis mit dem Impressionismus. Impressionismus hat man damals sicherlich anders verstanden als heute, aber damals war es ein Schimpfwort, und man hat nur die - das Verschwimmen der Konturen gesehen, und Debussy wollte kein Impressionist sein.
Er hat es sicherlich anders verstanden als wir heute, heute wäre er vielleicht einverstanden, so wie wir heute den Begriff benutzen, vorbehaltslos, dann hätte er sich vielleicht damit abgefunden, ich vermute, dass Debussy schon damals geahnt hat, dass mit diesem Begriff Willkür in die Interpretation kommen würde. Und das ist tatsächlich passiert. Man dachte, Debussy, ja, da verschwimmen die Konturen, jetzt ist alles egal, ich darf spielen wie ich will, das ist eine gehobene Form von Barmusik, Hauptsache, ich habe ein Pedal, ich steh die ganze Zeit auf dem Pedal, und alles andere ist nicht so wichtig, es ist unglaublich, wie lange sich diese Sicht gehalten hat, und in bestimmten Ländern trifft man das heute noch."

Links zur Musik

Mit Hilfe des Aufnahmesystems Welte-Mignon wurden von der Firma M. Welte & Söhne in Freiburg im Breisgau ab 1905 Klavieraufnahmen in bester Qualität realisiert; dies zu einer Zeit als die Schallplatte noch in den Kinderschuhen steckte.
Besonders die Aufnahmen von berühmten Komponisten wie Claude Debussy, Maurice Ravel oder Gustav Mahler, die ihre eigenen Kompositionen einspielten, erweisen sich heute als von unschätzbarem Wert, da sie verdeutlichen, wie diese Künstler sich die Interpretation ihrer Werke vorstellten. Weiterlesen

Musikliste

1. Stunde:
Claude Debussy: Nuages, erster Satz aus den Nocturnes
The new philharmonic orchestra, Pierre Boulez (Leitung)
Sony BMG 8869700816 2
Claude Debussy: Fete, aus: Premiere suite d’orchestre
Les siecles, Francois Xavier Roth, Leitung
Warner Classics Barcode: 0190295736750
Claude Debussy: le vent dans la pleine
Claude Debussy, Klavier
Warner Classics Barcode: 0190295736750
Claude Debussy: Mazurka
Aldo Ciccolini, Klavier
Warner Classics Barcode: 0190295736750
Claude Debussy
Mandoline,
Magali Léger, Sopran, Jean-Louis Haguenauer, Klavier
Warner Classics Barcode: 0190295736750
Claude Debussy:
Cortège Et Air De Danse, aus:
L’enfant prodigue
Alfons Kontarsky, Alois Kontarsky, Klavier
Deutsche Grammophon MG 8289 / 90
Claude Debussy: Prélude á l’après-midi d’un faun
London Symphonie Orchestera, Claudio Abbado
Deutsche Grammophon Nr. 423 103 -2
2. Stunde

Claude Debussy: Assez vif, zweiter Satz aus dem Streichquartett
Auryn Quartett
Tacet 118,
Claude Debussy: Prélude á l’après-midi d’un faun
London Symphonie Orchestera, Claudio Abbado
Deutsche Grammophon Nr. 423 103 -2
Louis Gaston Ganne: Lothringer Marsch
Gebirgsmusikcorps Garmisch-Partenkirchen,
Koch Universal Nr. 0670422
Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 6
Wiener Philharmoniker, Leonard Bernstein
Deutsche Grammophon 423 481 –2
Jean-Philippe Rameau: Rigaudon, aus der Suite in e-Moll
Sophie Yates, Cembalo,Chaconne. CHAN 0659.
Giacomo Meyerbeer: Les Huguenots,
Ambrosian Opera Chorus, New York Philharmonie Orchestra, Richard Bonynge (Leitung)
Decca Nr. 430 549-2
Musik: Jules Massenet: Manon
Beverly Sills (Sopran), New Philharmonia Orchestra, Julius Rudel (Leitung)
Deutsche Grammophon 474 950 -2
Edouard Lalo: Namouna
Orchestre de la Suisse Romande, Ernest Ansermet (Leitung)
Decca SXL 6203
Claude Debussy: Syrinx
Emmanuel Pahud, Flöte
Erato / Warner Classics 0190295 773960
Claude Debussy: Les souteraines du chateau, aus: 3. Akt, Pelléas et Mélisande
Libretto: Maurice Maeterlinck
George Shirley, Tenor, Donald Mcintyre, Bass
Orchestra of the Royal Opera House, Covent Garden, Leitung: Pierre Boulez
CBS ‎– 77324
Claude Debussy: Pagodes
Yuri Egoriv, Klavier
Warner Classics Barcode: 0190295736750
3. Stunde:
Claude Debussy: Sirènes, dritter Satz aus den Nocturnes
The new philharmonic orchestra, Pierre Boulez (Leitung)
Sony BMG 8869700816 2
Claude Debussy: Clair de lune
Samson Francois, Klavier
Warner Classics 0190295736750
Claude Debussy: Les sons et les parfums tournent dans l’air du soir, Aus: Preludes 1
Youri Egorov, Klavier
Warner Classics 0190295736750
Claude Debussy: Jeux de vagues, 2. Satz aus "la mer"
Les Siècles, Francois Xavier Roth, Leitung
Actes Sudes
Claude Debussy: reflets dans l’eau, aus den Images 1
Arturo Benedetti Michelangeli, Klavier
Deutsche Grammophon 415 372 2
Claude Debussy: La danse de puck
Arturo Benedetti Michelangeli, Klavier
Deutsche Grammophon 413 450 2
Claude Debussy: Finale. 3. Satz aus der Violinsonate
Renaud Capucon, Violine, Bertrand Chamayou, Klavier
Erato/ Warner Classics 0190295 773960
Claude Debussy: Pastorale, 1. Satz aus der Sonate für Flöte, Viola und Harfe
Gerard Caussé, Viola, Marie-Pierre Langlamet, Harfe, Bertrand Chamayou, Klavier
Erato / Warner Classics 0190295 773960

Literaturhinweise:

Claude Debussy: Briefe an seinen Verleger: Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Bernd Goetzke: Olms-Verlag
Claude Debussy: Monsieur Croche: Herausgegeben von Francois Lesur: Aus dem Französischen von: Josef Häusler Reclam-Verlag
Roger Nichols. Claude Debussy im Spiegel seiner Zeit - portraitiert von seinen Zeitgenossen. M&T Verlag, Zürich/St. Gallen 1993.
Theo Hirsbrunner. Debussy und seine Zeit. Laaber 1981.
Wolfgang Dömling. Claude Debussy: La Mer. Aus der Reihe Meisterwerke der Musik, W. Fink Verlag München, 1976.
Jean Barraqué. Claude Debussy. Rowohlt, 1964.
Dietrich Fischer-Dieskau. Fern die Klage des Fauns. Claude Debussy und seine Welt. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1993.

Produktion der Langen Nacht:
Autorin und Regie: Sabine Fringes; Es sprachen: Hildegard Meier, Stefko Hanushevsky, Josef Tratnik, Axel Gottschick, Katharina Schmalenberg; Redaktion: Dr. Monika Künzel

Mehr zum Thema