Chronist der kleinen Untergänge

Von Beatrix Langner · 19.04.2005
Er schrieb mit den Fingerspitzen. Seine Feuilletons für die "Weltbühne" oder das Wiener "Tagblatt" sind die wahrscheinlich kürzesten Werke der deutschsprachigen Literatur.
Für die Geistreicheleien der "Rülpser-Kritiker" à la Alfred Kerr hatte er nichts übrig. Alfred Polgar, der Übervater des literarischen Feuilletons, hatte als Gerichtsreporter, Parlamentsstenograph und notorischer Kaffeehausgänger in Wien begonnen, bevor der Verleger Ernst Rowohlt aus seinen Hunderten Zeitungsskizzen, Porträts und Miniaturgeschichten Bücher machte, die ihn 1926 schlagartig berühmt machten.

Er fand, worüber er schrieb, auf den Strassen der Großstädte, in Kasernen, Zuchthäusern, Vorstadtkneipen. Nie wollte er klüger sein als seine Leser. Robert Musil schrieb über ihn: "Polgar lässt die Dinge laufen, wie sie behaupten, es zu können; er sieht ihnen bloß zu und beschreibt sie." Die Dinge gingen gar nicht gut aus. 1933 musste der Sohn ungarisch-jüdischer Eltern aus der Wiener Leopoldstadt aus Deutschland fliehen. Vor fünfzig Jahren, am 24. April 1955, starb Alfred Polgar in einem Züricher Hotel. Kaum eine liberale Zeitung in Deutschland, Österreich, der Schweiz, die von diesem Ereignis nicht Notiz nahm.