Chronik einer Erkrankung

Von Monika Köpcke · 16.10.2009
Als Anfang der 80er-Jahre die ersten Berichte über ein "Waldsterben" die Runde machten, beschloss die Bundesregierung unter Helmut Kohl, den Zustand des Waldes jährlich aufwendig erheben zu lassen.
"Und wenn das Sterben noch so langsam geht, eines Tages ist der Albrand von Dreifaltigkeitsberg bei Speichingen bis zum Ipf bei Bopfingen ohne Wald. Bald, vielleicht noch in diesem Jahrhundert, wird sich der Albtrauf dann als eine 200 bis 300 Meter hohe weiße Wand quer durch Schwaben ziehen."

Anfang der 80er-Jahre schlagen Förster und Wissenschaftler Alarm: Lichte Kronen, gelbe Nadeln, krüppelige Äste. Von einem großflächigen "Waldsterben" ist von nun an die Rede. Die Öffentlichkeit reagiert entsetzt.
Ausgerechnet der Wald! - Gilt er doch als nationales Kulturgut, Ort der Märchen und Mythen, besungen und bedichtet.

"Bedroht ist jetzt die ganze Lebensgemeinschaft Wald. Nicht nur einzelne ihrer Glieder. Und niemand sollte sich einbilden, dass der Mensch die Bäume dann noch lange überlebt."

Die Medien sprechen von einem "ökologischen Hiroshima", spätestens zur Jahrhundertwende, so die Meinung vieler Experten, wird der deutsche Wald verschwunden sein. Die Politik zeigt sich zunächst eher ratlos. Friedrich Zimmermann, CSU, und Franz Müntefering, SPD:

Zimmermann: "Die Waldschäden sind in Jahren und Jahrzehnten entstanden, niemand kann über Nacht die heile Welt schaffen."

Müntefering: "Der Patient Wald ist krank. Wir müssen mit der Behandlung beginnen, ohne schon alle Ursachen der Krankheit genau zu kennen. Forschen kann handeln nicht ersetzen."

Der Verursacher war bald ausgemacht - der sogenannte saure Regen.

Um die Luftqualität in den Industrieregionen zu verbessern, begann man in den 60er-Jahren die Industrieschlote immer höher zu bauen. Als Folge wurden die schwefelhaltigen Abgase so weit fortgetragen, dass Baumbestände auch in abgelegenen Gebieten erkrankten. Die Politik stand unter großem öffentlichen Druck: 1983 zwang die frisch gewählte Kohl-Regierung im Eiltempo und gegen heftigen Widerstand die Industrie zum Einbau von Schwefelfiltern. Bund und Länder ließen reichlich Forschungsgelder fließen. Doch noch fehlten verlässliche Daten über das tatsächliche Ausmaß der Schäden. So beschloss die Regierung, den Zustand des Waldes im Jahresrhythmus aufwendig erheben zu lassen. Am 16. Oktober 1984 stellte Agrarminister Ignaz Kiechle den ersten bundesweiten "Waldschadensbericht" vor, dessen Zahlen sich auf entsprechende Vorjahresberichte der Bundesländer beziehen.

Kiechle: "Der Umfang der Schäden ist auf nunmehr 50 Prozent der Waldfläche angestiegen. Der Anteil der stark geschädigten und abgestorbenen Bäume hat 110.000 Hektar erreicht. Da nun auch bei den Laubbäumen die Schäden drastisch angestiegen sind, erreichen die möglichen ökologischen und waldbaulichen Folgen eine neue Dimension."
Seitdem kommt es jedes Jahr zum gleichen Ritual: Im Spätsommer schwärmen besonders geschulte Forstbeamte in die Wälder aus. Sie mustern die Kronen von rund 13.000 Bäumen und bewerten sie nach dem Grad ihrer Belaubung oder Benadelung. In den 80er-Jahren veränderten sich die Zahlen kaum. Erst zu Beginn der 90er-Jahre schien sich der Wald – auch dank der strikten Emissionspolitik – endlich zu erholen. Von einem drohenden Waldsterben sprach bald niemand mehr - was Kritiker in ihrem Glauben bestätigte, dieses Schreckgespenst sei nur eine Fiktion von Naturschützern und Medien gewesen.

Seitdem wächst auch die Kritik am Waldschadensbericht, der nun in den freundlicher klingenden "Waldzustandsbericht" umgetauft wurde. Vorbehalte gibt es vor allem gegen das Verfahren zur Ermittlung der Schäden. Zu subjektiv und zu oberflächlich sei die Begutachtung der Baumkronen, sie liefere keine Rückschlüsse auf die Ursachen der Schädigungen, sorge aber dafür, dass punktuelle Ereignisse wie Trockenheit oder Parasitenbefall die Zahlen unnötig in die Höhe treiben.

Klimawandel, Ozon und Stickoxide setzen heute dem Wald schwer zu. Über zwei Drittel des deutschen Waldes sind sichtbar geschädigt, rund 25 Prozent der Bäume sogar schwer, so die Ergebnisse des letzten Berichts, der künftig nur noch alle vier Jahre erscheinen soll. Wie immer man diese Zahlen interpretieren mag, eines ist klar: Dem deutschen Wald geht es heute nicht besser als 1984. Nur regt sich heute kaum noch jemand darüber auf.