Chronik des Rundfunks

Der diskrete Charme des Radios

in Sessel neben einer Anrichte mit Fernsehgerät und Radio aus den 50er-Jahren
Rund-Funken statt Funken: Winfried Sträter blickt zurück. © imago / Westend61
Von Winfried Sträter · 29.08.2016
Egal, welcher Radio-Übertragungsweg sich hierzulande am Ende durchsetzen wird – der Begriff des Rundfunks wird vermutlich erstmal nicht weichen. Woher das mit dem Rundfunken überhaupt kommt und was das mit der Zukunft zu tun hat: ein historischer Überblick.
Sie sitzen in der Küche oder im Wohnzimmer oder am Arbeitsplatz oder im Auto oder – oder wo auch immer. Sie hören. Die Welt ist Klang, verkündete Joachim-Ernst Behrendt in seiner legendären Radio-Matinee 1981:
"Wenn, wie McLuhan gezeigt hat, das Medium die Botschaft ist, dann ist die eigentliche Botschaft des Radios: Hören. Das ist es, was wir Radioleute in Wirklichkeit tun: Mit allem, was wir machen, bitten wir die Leute, ihre Ohren zu öffnen, die Welt wieder stärker durch die Ohren wahrzunehmen."

Moment der kollektiven Erinnerung

Hören - in einer Medienwelt, die unendliche Bilderfluten erzeugt. Sie schließen als Hörerin oder Hörer gewissermaßen die Augen und öffnen die Ohren. Vor fast einem Jahrhundert war es ein atemberaubender Moment für die Hörer, als sie die Stimme aus dem Radio hörten.
Albert Einstein
Albert Einstein saß irgendwo vor einem Mikrofon.© imago/United Archives
Albert Einstein: "Verehrte An- und Abwesende! Wenn Ihr den Rundfunk hört, so denkt auch daran, wie die Menschen in den Besitz dieses wunderbaren Werkzeuges der Mitteilung gekommen sind."
Irgendwo in der Ferne saß Albert Einstein, sprach ins Mikrofon, und irgendwo anders saßen Menschen und hörten seine Stimme. Oder eine Musikdarbietung. In der kollektiven Erinnerung war dieses Erlebnis eindringlicher als die Übertragung der ersten Bilder, die etwas später folgte.
Hans Bredow: "Der uralte Menschheitskampf gegen die Schranken von Raum und Zeit ist in ein neues Stadium getreten."
Wenn Sie heute auf herkömmliche Weise Radio hören, hat sich an der Ursituation nichts Wesentliches geändert. Nur sind es nicht mehr die Langen oder Mittelwellen, die Ihr Gerät auffängt, sondern die Ultrakurzwellen. UKW. Oder neuerdings DAB+.
"Am Mikrofon begrüßt Sie heute ..."

Die Funkverbindung als Ausgangspunkt

Wenn man bedenkt, auf welchen Wegen man heute Radiosendungen hören kann, steckt im herkömmlichen Radiohören eine Ironie der Geschichte. Denn der Ausgangspunkt der Entwicklung war die Funkverbindung eins zu eins: Ein Mensch funkt, ein anderer empfängt das Signal. Nachdem Heinrich Hertz im späten 19. Jahrhundert die elektromagnetischen Wellen entdeckt hatte, arbeiteten Wissenschaftler und Techniker fieberhaft daran, Anlagen für den Funkverkehr zu bauen. Dem Italiener Guglielmo Marconi gelang es 1901, eine Funkverbindung über den Atlantik herzustellen – unbegreiflich für die Zeitgenossen, auch wenn Albert Einstein etwas später meinte:
"Sollen sich alle schämen, die gedankenlos sich der Wunder der Wissenschaft und Technik bedienen und nicht mehr davon geistig erfasst haben als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst."

Vom Funken zum Rund-Funken

All die technischen Pionierleistungen hatten anfangs eines gemeinsam: die Verbindung eins zu eins. Die Kommunikation zwischen einem Sender und einem Empfänger. Vom Funken zum Rund-Funken: Dieser Quantensprung gelang 1906 dem Kanadier Reginald Fessenden.
So klang die Übertragung natürlich nicht – aber "Stille Nacht" wurde neben einer kleinen Bibellektüre an jenem Weihnachtsabend 1906 von Massachusetts aus in die weite Welt hinaus gesendet. Wäre die Erste Weltkrieg nicht dazwischen gekommen, wäre die Entwicklung vielleicht schneller gegangen – so nahm sie erst nach 1918 Fahrt auf, in den Niederlanden, in den USA, schließlich auch in Deutschland:
"Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass an diesem Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos telefonischem Wege beginnt." (1923, erste Radiosendung aus dem Voxhaus, Berlin)
1923 – ewig lang her.
Heute, da die elektronische Kommunikation die Grenzen zwischen den herkömmlichen Massenmedien Zeitung, Fernsehen, Radio beiseiteschiebt, steckt in dieser alten Geschichte die besagte Ironie der Geschichte. Denn die Internet-Kommunikation funktioniert wie einst der Funkkontakt: eins zu eins. Ich logge mich ein, heißt: Ich lasse eine Verbindung zwischen Sender und Empfänger aufbauen.

Digitale Rückkehr zu den Anfängen?

In dieser Hinsicht sind wir zurückgekehrt zu den Anfängen, als die Funker Verbindungen herstellten. Was uns zunehmend beunruhigt in Zeiten von Big Data und seit ...
"My name ist Edward Snowden ..."
... seit Edward Snowden: Wir wissen ja nicht, wer registriert, welche Verbindung gerade für uns aufgebaut wird. Wer heimlich Daten sammelt, um uns besser kontrollieren - oder beim nächsten Einkauf besser lenken zu können.
Das ist der diskrete Charme des guten, alten Radios: Wenn Sie es zu laut gestellt haben, bekommt vielleicht Ihr Nachbar etwas davon mit. Aber sonst niemand. Die Datensucher, die mehr von Ihnen wissen wollen, um Ihr Konsumverhalten besser steuern zu können, raufen sich die Haare: Warum kommt da nichts von Ihnen? Was machen Sie jetzt bloß? Nun ja – Sie hören gerade Radio. Rund-Funk.
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