Philosophischer Wochenkommentar

Über die Dialektik des Fußballspiels

Ein französischer Fan mit Brille, Mütze und Bart in den Farben der Nationalflagge.
Wie wohl Theodor W. Adorno die Begeisterung dieses Fans beim Auftaktspiel Frankreich gegen Rumänien deuten würde? © dpa / Peter Kneffel
Von Nils Markwardt · 12.06.2016
Bewusste Form des Kulturverzichts, biopolitisches Bootcamp, Kulturgut im engsten Sinne: Die Beziehung zwischen Philosophie und Fußball ist komplex, kompliziert und verwirrend. Nils Markwardt schafft im philosophischen Wochenkommentar etwas Klarheit.
Geht's um Fußball, weiß jedes Kind: Hände weg vom Ball! Der Sportphilosoph Gunter Gebauer hat jedoch darauf hingewiesen, dass diese Banalität auch eine tiefere Dimension birgt. Indem die feinmotorischen Fähigkeiten der Finger, die den Menschen vom Tier unterscheiden, buchstäblich aus dem Spiel bleiben, offenbart sich der Fußball zunächst als bewusste Form des Kulturverzichts. Und das könnte schon mal ein Grund sein, warum die Beziehung zwischen Philosophie und Fußball lange keine leichte war.

Ausdruck des kulturindustriellen Massenspektakels

Der kritischen Theorie war der Sport Ausdruck des kulturindustriellen Massenspektakels. Sogar als vermeintliche Vorstufe des Faschismus hat sie ihn gedeutet. Immerhin erklärte Theodor W. Adorno einst in einem Interview, dass man in Stadien ein Fanverhalten erkenne könne, das, Zitat, "den einfachsten Formen der Gastfreundschaft aufs krasseste widerspricht". Adorno folgerte deshalb: sportliche Großveranstaltungen seien prinzipiell "einfach fremdenfeindlich".
Und auch Anhänger des Poststrukturalismus beäugten den Fußball vor allem kritisch. Galt der Kult ums runde Leder vielen doch als biopolitisches Bootcamp, als gesellschaftliches Trainingslager für den neoliberalen Körper[Miller, S1] . Diese Zeiten sind jedoch weitestgehend vorbei. Philosophen, Soziologen und Kulturwissenschaftler sehen den Fußball heute nicht nur als Feld der Gesellschaftskritik, sondern ebenso als Gegenstand artistischer Ästhetik. Und man muss sagen: zum Glück.
Es stimmt natürlich: Profifußball, gerade im Rahmen von Welt- und Europameisterschaften, folgt einer radikalen Vermarktungslogik. Ebenso bietet er leider noch viel zu oft eine Bühne für Rassismus. Doch wer nur diese eine Seite sieht, war wahrscheinlich noch nicht allzu oft im Stadion, ist noch nie wildfremden Menschen beim Torjubel um den Hals gefallen, hat noch nie die Schönheit des Spiels in all ihrer Großartigkeit erfahren. Denn Fußball mag einerseits zwar auf Kulturverzicht beruhen, dennoch ist er gleichzeitig ein Kulturgut im engsten Sinne.

Sondersituation in den Niederlanden

Das hat der britische Sportjournalist David Winner in seinem Buch "Brilliant Orange" am Beispiel der Niederlande gezeigt. Dass dort in den 70er-Jahren das moderne Offensivspiel erfunden wurde, sei nämlich kein Zufall. Cruyff, Krool und Co konnten den sogenannten "Voetbal Totaal", dieses System des permanenten Verschiebens und verfeinerten Stellungsspiels, nämlich deshalb entwickeln, weil zwischen Amsterdam und Zandvoort die effektive Kontrolle des Raums schon immer eine zentrale Bedeutung hatte. In unserem dicht besiedelten Nachbarland ist Flächenmanagement nämlich seit jeher ein Muss. Das zeigt sich nicht nur in Landschaftsplanung und Architektur, sondern etwa auch in den Bildern Jan Vermeers oder Piet Mondrians.
Doch der Fußball offenbart sich bisweilen nicht nur als lebendige Malerei, sondern ist vielleicht auch eine der letzten utopischen Erzählungen. Denn bei aller nötigen Kritik an den turbokapitalistischen Rahmenbedingungen: Wo sonst kommen Millionen Menschen zusammen, um auf eine "Epiphanie der Form" zu hoffen, wie es der Kulturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht formuliert. Sprich: Wo sonst gibt es noch einen solchen Kollektivismus der Schönheit: Massen, die auf einen jener Augenblicke warten, den sie ihr Leben lang nicht vergessen.

Island als EM-Geheimtipp

Doch wie jeder utopischen Momentaufnahme wohnt auch dem Fußball eine Dialektik inne. Das sieht man ebenfalls am Beispiel der Niederlande. Nicht nur haben diese bis heute nur ein Großturnier gewonnen, sondern sind bei der aktuellen Europameisterschaft auch als einzige große Fußballnation bereits in der Qualifikation gescheitert. Europameister wird deshalb Deutschland. Oder Spanien. Oder, das wäre besonders utopisch, mein persönlicher Geheimtipp: Island.
Mehr zum Thema