Christo hat noch lange nicht genug

Von Barbara Wiegand · 16.09.2010
Christo steht für spektakuläre Großprojekte wie den verpackten Reichstag 1995 in Berlin. Nun ist der Künstler wieder in der Hauptstdt, zum ersten Mal ohne seine im vergangenen Herbst verstorbene Frau Jeanne Claude. Er stellte seinen neuen Bildband mit dem Titel "Christo and Jeanne Claude - 75" vor.
Dicht an dicht drängeln sich die Menschen im kleinen Store des Taschen Verlages in Berlin. Peter Raue ist gekommen, der Berliner Rechtsanwalt, der Christo bei der Reichstagsverhüllung juristisch zur Seite stand, Menschen aus der Kunstszene, die dem Meister der Verpackung Tribut zollen wollen, Damen mit Chanel-Handtäschchen und Vorliebe für kulturige Events, aber auch viele, die Christo einfach lieben für seine Kunst - und die Erinnerungen, die er ihnen beschert hat - etwa an den 1995 von Christo verhüllten Reichstag

"Jeden Tag musste ich dorthin. Weil dort entwickelte sich etwas ganz eigenartiges. Dieser Koloss der begann zu leben und bei jedem Augenblick, mit dem Sonneneinfall, dem Himmel, den Wolken, immerzu war das anders, Tausende von Menschen saßen davor und es war eine feierliche Stille."

Alles stehen und liegen gelassen hat diese Frau, um Christo zu sehen - den kleinen Mann in Jeans und gestreiftem Hemd, der inzwischen fast unbemerkt den Laden betreten hat. Vor ihm auf dem Tresen liegt das neue Buch - ein Bildband, der mit 18 Kilo Gewicht, über 700 Seiten und einem Preis von 1000 Euro für eines von 1000 Exemplaren extraordinär ist - in jeder Hinsicht - und sicher etwas für absolute Liebhaber, wie diesen Berliner:

"Meine Frau und ich sind große Fans von Christo, waren auch extra in New York bei den Gates - und insofern gönnen wir uns das jetzt mal."

Sie gönnen sich ein kolossales, von Fotografien geprägtes Buch, das mehr ist als eine pure Dokumentation. Es zeigt vielmehr von allem etwas - von der Kunst und dem untrennbar damit verbundenen Leben des Paares. Es gibt Aufnahmen von Christo mit Bauhelm vor dem verhüllten Reichstag, von ihm mit noch nicht so grauen und ihr mit noch nicht so rot gefärbtem Haar.

Abgebildet sind auch frühe Arbeiten. Portraits, die der gebürtige Bulgare Christo als Jugendlicher von seinen Eltern machte. In den sechziger Jahren in Folie verschweißte Rosen. Barrikaden aus Ölfässern. Und dann natürlich die großen Projekte, wie die pinkfarben umrahmten Inseln bei Miami Beach. Eine farbenprächtige Bildgewalt, die über manche chronologische Trockenheit im Biografischen Begleittext hinwegtröstet. Aufnahmen, die mal Schlaglichter auf Einzelnes werfen, mal Teil einer akribischen Dokumentation der Großprojekte sind. All das zeigt: Christos Kunst passt - nicht nur der Größe halber - in keine Schublade

"Ja, man kann sagen unsere Kunst geht über Grenzen hinaus. Aber ich mag noch viel lieber, wenn man sie als real bezeichnet, als Kunst aus der Wirklichkeit. Denn da ist ja nichts abgemalt oder nachgeformt, wie Kunst das sonst ja tut. Unsere Kunst dagegen ist das, was sie zeigt."

Wobei Christo diese Wirklichkeit bekanntlich gern etwas verpackt. Zum ersten Mal tat er das im Jahr 1958 mit einigen Farbdosen:

"Es geht mir anfangs vor allem darum, die Dinge transparent zu machen, leicht und beweglich. Man kann das vergleichen mit Umzugskisten, in die man seine Sachen transportfertig verpackt. Natürlich habe ich andere Materialien benutzt. Am Anfang waren es bemalte Leinwände, dann Folien, hinter denen man das verpackte noch ahnen konnte, später dann spezielle Stoffe."

Mit derlei Stoffen vergoldete er später die Pariser Pont Neuf und versilberte den Berliner Reichstag. Und egal wie großartig die Projekte auch waren, wie viel sie gekostet haben hat, welche zauberhaft neuen An- und Einsichten sie dem Betrachter boten - zum Konzept Christos gehört, dass die Hüllen wieder fallen - dass alles endlich und einmalig ist. Was manchmal ganz praktische Gründe hat:

"Ich erzähle zum Beispiel gern die Geschichte von unserer Australienreise vor drei Jahren. Wir sind noch mal zur Little Bay bei Sydney gefahren, die wir 1969 verhüllt haben. Und Jeanne-Claude sagte zu mir - mein Gott wir müssen verrückt gewesen sein, das damals zu machen. Da gibt es Kliffs, die gehen 40 Meter steil runter zum Pazifischen Ozean, und da schwimmen Haie drin. Aber, wir beide waren damals sehr jung. Und es zeigt noch mal - man kann die Dinge nicht wiederholen - unsere Kunst ist einzigartig."

Neue Projekte aber soll es geben. So will Christo endlich den Arkansas River in Colorado mit Gewebebahnen überspannen, so wie er es seit 1992 plant. Over the River soll vollendet werden - auch ohne seine verstorbene Partnerin Jeanne Claude.

Und wenn man den schmächtigen, grauhaarigen Mann erlebt, mit welchem Enthusiasmus er von den jüngsten Verhandlungen mit den Behörden erzählt und davon, das Jeanne Claude auf gewisse Art dabei immer noch an seiner Seite ist, dann begreift man, dass dieses Buch kein Vermächtnis ist. Trotz des Titels "75", der auf das Alter von Christo und Jeanne Claude anspielt, die beide am 13. Juni 1935 geboren wurden. Es ist vielmehr eine vorläufige Zusammenfassung von Leben und Werk - mit Raum für mehr.
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