Choreograf Omar Rajeh

"Ich glaube an eine neue Kreativität, die online gut funktioniert"

12:20 Minuten
Performance "#minaret" vom Choreographen Omar Rajeh.
Performance #minaret vom Choreographen Omar Rajeh © Stephan Floss
Moderation: Susanne Burkhardt · 30.01.2021
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Der Choreograf Omar Rajeh hat Beirut den Rücken gekehrt, um seine Kunst von Lyon aus zu betreiben. Den Bezug zum Libanon möchte er jedoch nicht verlieren. Deshalb setzt er seit der Coronapandemie auch auf eine eigene digitale Plattform.
Es ist knapp ein halbes Jahr her, da erschütterte eine Explosion die libanesische Hauptstadt Beirut. Teile der Stadt wurden zerstört, fast 200 Menschen starben, mehr als 6000 wurden verletzt. Der libanesische Choreograf und Tänzer Omar Rajeh, einer der bekanntesten im arabischen Raum, hatte zu diesem Zeitpunkt schon länger Beirut verlassen. Mit seinem Ensemble Maqamat war er ins französische Lyon umgezogen. Mitgenommen hat er auch sein Festival BIPOD (Beirut International Platform of Dance), das pandemiebedingt ins Internet verlegt wurde.
Vor vier Jahren waren Omar Rajeh und seine Partnerin Mia Hablis noch in Beirut. Damals hatten sie gerade ein eigenes Theater eröffnet und waren voller Pläne. Wie hat der Wegzug aus der Heimat die eigene Arbeit verändert? Und wie ging es ihm, als er aus der Ferne von der Verwüstung Beiruts erfuhr?
Omar Rajeh: Ehrlich gesagt, habe ich zwei Monate gebraucht, um zu verstehen, was passiert war, und um das alles zu verarbeiten. Für mich war es besonders belastend, dass ich mich selbst gar nicht in Beirut aufgehalten habe. Ich habe mich eingesperrt gefühlt, machtlos. Ich konnte gar nichts tun, konnte nicht einfach so auf die Straße gehen, um mit den Menschen zu sprechen, um aktiv zu werden. Deshalb waren der August und September für mich sehr schwierige Monate.
Aber Ende September habe ich gesagt: So können wir nicht weitermachen, sonst werden wir wirklich depressiv, wir müssen uns jetzt zusammenreißen. Dabei muss man sich allerdings das Ausmaß der Sorglosigkeit und der Korruption in Beirut vor Augen führen, den Mangel an Verantwortungsbewusstsein bei der Regierung und den Politikern, wenn es darum geht, sich um die Menschen und ihre Zukunft zu kümmern. Für uns ist das nichts Neues, aber selbst wir waren schockiert von diesem schrecklichen Ereignis. Man kann das nicht gut in wenigen Worten zusammenfassen. Natürlich ist es schwer.

Kein Geld vom Gastauftritt

Susanne Burkhardt: Die Korruption und auch die Verantwortungslosigkeit der Politiker gab es auch schon vorher. War sie auch ein Grund, dass Sie Beirut 2019 verlassen haben, um in Lyon weiter zu arbeiten?
Rajeh: Ich habe Beirut verlassen, weil uns dort bis zu einem gewissen Grad die Freiheit genommen wurde und ich retten wollte, was wir uns über mehrere Jahre aufgebaut hatten. Die wirtschaftliche Situation in Beirut ist sehr schwierig. Als wir 2019 von einer internationalen Tournee zurückkamen, stellten wir fest, dass man bei den Banken alle internationalen Transfers blockiert hatte. Wir durften auch die Einnahmen der Gastspiele nicht mehr abbuchen. Wir haben das gesamte Geld verloren, und ich konnte unsere Künstler nicht bezahlen. Das hat mich wirklich aufgeschreckt. Weil ich nicht das Gefühl hatte, dass sich die Lage 2020 verbessern würde, haben wir ganz rasch die Entscheidung getroffen, wegzuziehen. Das ist uns natürlich nicht leichtgefallen. Wir haben uns mit unserem Festival auch dafür verantwortlich gefühlt, Künstler und Publikum in Beirut zu unterstützen. Aber wir brauchten einen Ort, an dem wir unsere Arbeit fortsetzen konnten. Jetzt, nach etwas mehr als einem Jahr, habe ich das Gefühl, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Wir haben uns selbst gerettet und sind aus der Distanz wahrscheinlich sogar eine größere Hilfe für die Szene in Beirut.
Burkhardt: Das letzte Stück, das ich von Ihnen gesehen hab, hieß "Beytna" – das bedeutet "Zuhause". Da wurde auf der Bühne beim Festival Theater der Welt in Hamburg gekocht, getanzt und danach gemeinsam mit dem Publikum gegessen. Das Körperliche, das Miteinander und natürlich das Zuhause im Exil – fehlt das derzeit besonders?
Rajeh: Ehrlich gesagt, habe ich nicht das Gefühl, als wäre ich im Exil. Wir haben uns von Anfang an klar für Lyon entschieden. Wir fühlen uns dort jetzt wirklich zu Hause. Schon bei der Produktion "Beytna", die Sie erwähnt haben, lautete die Kernfrage: Wo gehören wir hin? Gehören wir in unsere Familie, an unseren Geburtsort, den wir uns nicht aussuchen konnten? Oder gehören wir nicht auch zu unserem selbst erwählten Beruf? Stecken wir also in unseren ursprünglichen Gesellschaften fest?
Unser Leben ist doch ein Prozess, in dem wir wichtige Entscheidungen treffen. Die Tatsache, dass ich aus einem kleinen libanesischen Ort in den Bergen stamme, treibt mich eher voran, als dass es mich zurückhält. Ich finde es gut, dass sie das Wort "Exil" ins Gespräch bringen, dahinter steht für mich nämlich eine wichtige Frage. Was bedeutet es überhaupt, Teil eines Landes, einer Nation zu sein? Begrenzt uns das? Oder gibt es uns die Möglichkeit, uns weiterzuentwickeln?

Gegen ein Schubladendenken

Burkhardt: Haben Sie schon Antworten darauf gefunden?
Rajeh: Wir leben die Antworten. Die Antworten sind der Prozess. Vielleicht werde ich bei der erstbesten Gelegenheit ins Flugzeug steigen, nach Beirut fliegen und dort ein paar Wochen verbringen. Wichtig aber ist unsere Einstellung zu diesem Thema. Es sind manchmal nur Kleinigkeiten. In der Nähe unserer Wohnung gibt es eine schöne kleine Bäckerei, da kaufe ich mein Brot. Wir haben dort jetzt Freunde, alte und neue, die wir hier getroffen haben.
Statt also Etiketten zu tragen – Libanese zu sein oder schwarz oder weiß oder Araber oder Deutscher – müssen wir lernen, den individuellen Menschen zu begegnen. Natürlich ist es immer interessant, den Hintergrund von jemandem kennenzulernen, aber es ist extrem wichtig, dabei nicht in ein Schubladendenken zu verfallen, das wir sowieso schon in unseren Köpfen haben. Dass man sich all das bewusst macht und dann auf jeden einzelnen Menschen zugeht, ist sehr wichtig.
Omar Rajeh im Gespräch, Mai 2017
Redakteurin Susanne Burkhardt besuchte Omar Rajeh und seine Partnerin im Mai 2017 in Beirut.© Susanne Burkhardt / Deutschlandradio
Burkhardt: Dieser Austausch, dieser Wechsel ist momentan sehr erschwert durch die Pandemie. Sie sagten auch schon, dass die Situation für die Gruppe desaströs ist. Für Tänzer ist diese Situation besonders schwierig, weil für ihre Arbeit natürlich der Körperkontakt ganz selbstverständlich dazu gehört. Wie geht Ihre Gruppe Maqamat damit um?
Rajah: Natürlich ist die Situation äußerst schwierig, weil es auf der gesamten Welt passiert. Gerade für Bühnenkünstler gibt es nirgendwo ein Schlupfloch. Im März, in den ersten beiden Lockdown-Wochen, gab es viele Kunstinstitutionen, die Dinge online verfügbar gemacht haben. Das hat ein wichtiges Gefühl der Solidarität hergestellt. Aber nach einer Weile haben wir uns überlegt, dass wir unsere Arbeit nicht komplett auf den sozialen Medien zeigen wollten. Wir haben eine eigene digitale Plattform erschaffen, citerne.live, bei der sich die User klar dafür entscheiden, eine Tanzaufführung zu sehen, wo sie sich registrieren und dann für die jeweiligen Programme auch zahlen. Schließlich müssen die Künstler Geld verdienen.
Social media ist eher ein Ort, an dem man künstlerische Arbeiten bewerben kann, nicht, wo man sie zeigen sollte. Wir wollen auf unserer Plattform auch kulturpolitische Fragen zum Thema machen. Der Aufbau unserer kulturellen Institutionen ist immer noch sehr hierarchisch und autoritär. Das müssen wir infrage stellen. Was ist denn wichtiger – die künstlerische Arbeit, ihre Konzepte oder die Gebäude, in denen sie stattfindet? Wie können wir die Kultur für die Zukunft retten?
Wir haben in Beirut im Laufe der letzten Jahre immer wieder erlebt, dass sich in letzter Minute schwerwiegende Probleme ergeben haben. Wir mussten immer fürchten, dass unser Festival womöglich abgesetzt würde. Deshalb haben wir ohnehin die Angewohnheit, Dinge direkt anzugehen, statt darauf zu warten, dass sie sich irgendwie ergeben. Darum ermutige ich heute die Künstler, die Organisatoren, sich bewusst Lösungen zu überlegen: Wie können wir diese Hindernisse überwinden, sie vielleicht auch als Gelegenheit verstehen, einen kulturellen Neuanfang zu wagen, der engagierter und solidarischer ist?
Außerdem sollten wir eine globalere Perspektive einnehmen. Wir wollen unsere Plattform nicht nur für unseren kleinen Kreis betreiben, sondern wir hoffen, dass Künstler und Festivals in anderen Ländern sie ebenfalls für ihre Arbeit benutzen, als eine internationale Stimme der Kultur, die dann auch endlich online breitenwirksamer präsentiert werden kann.

Geld mit Online verdienen

Burkhardt: Ich habe mir citerne.live angeschaut, da gibt es wirklich viele Möglichkeiten, Sachen zu besuchen, zu sehen. Ich finde den Ansatz auch gut, dass man sich registriert und bezahlt und dass das nicht alles kostenfrei ist. Finanziert sich diese Plattform denn schon durch diese Eintrittsgelder?
Rajeh: Bis jetzt natürlich noch nicht. Aber ich glaube ganz fest, dass es in der Zukunft möglich sein wird. Wir planen auch, dass die Live-Aufführungen später in einer Mediathek abrufbar sein werden. Uns ist es wichtig, dass die Künstler dieses neue Medium für sich entdecken können, ihre Ideen, ihre Kreativität, ihre Inspiration dort festhalten können und dafür dann auch bezahlt werden. Das ist schließlich ihr Lebensunterhalt. Ich hoffe, dass in der Zukunft dort genug Geld eingenommen wird, um auch Produktionen mitfinanzieren zu können.
Burkhardt: Es gab 2018 in Hellerau, dem Europäischen Zentrum der Künste, eine Uraufführung, eine Arbeit von Ihnen, #minaret, die hat sich tänzerisch beschäftigt mit der Zerstörung der syrischen Stadt Aleppo. Die Explosion von Beirut war ein sehr einschneidendes Erlebnis und ist es bis heute. Wird sie in irgendeiner Form Thema in einer Ihrer nächsten Arbeiten sein?
Rajeh: Ich weiß noch, als die Explosion passierte, hat einer der Tänzer mich angerufen und zu mir gesagt: Das ist genau wie in #minaret: die Idee der Zerstörung einer Stadt, die Eliminierung von Kultur, von sozialer Gemeinschaft – nicht nur von Straßen und Gebäuden. In Beirut gingen die Meinungen auseinander. Einige Künstler sagten: Bei dieser Explosion sind so viele Menschen gestorben, das dürfen wir nicht künstlerisch verarbeiten. Ich sehe das auch so, aber wir müssen uns trotzdem fragen, wie wir mit dieser Situation umgehen. Das braucht Zeit.
Aber jetzt kommen so viele Faktoren zusammen: Covid-19, die wirtschaftliche Lage in Beirut und dann auch noch die Explosion. Wir haben uns entschlossen, all das in unserem nächsten Projekt zu bündeln. Es geht um die Architektur eines ruinierten Körpers. Darin lässt sich all das verhandeln, auch, wie wir Kultur aus ihrem statischen Zustand lösen, wie wir sie dynamischer machen können, mit ihr auch klarer auf Geschehnisse der Gegenwart reagieren können.
Es geht also nicht direkt um die Explosion selbst, aber wir müssen uns eben auch damit auseinandersetzen, was sie mit unserem Denken, unserer Mentalität gemacht hat. Deshalb treibt mich im Augenblick auch am meisten der Gedanke um, wie Beirut in zehn oder 15 Jahren aussehen wird. Wie nehmen die Menschen im In- und Ausland ihre Stadt wahr, gerade diejenigen, die jetzt noch jung sind? Wie wird ihre Zukunft aussehen? Ich schaue aus einer kulturellen, künstlerischen Perspektive auf all das, das gehört zu meiner Arbeit, aber ich glaube, sehr viele Menschen müssen jetzt darüber nachdenken, auch über die sozialen und politischen Folgen.
Digitales nicht als Bedrohung
Burkhardt: Tanz ist eine Kunstform, die am stärksten auf internationalen Austausch setzt, weil es die gemeinsame Körpersprache gibt. Ist es etwas, was für Ihre Arbeit sehr wichtig ist, sich auszutauschen, zu reisen, unterwegs zu sein. Wie glauben Sie, wird sich die Zukunft auch durch die Pandemie ändern?
Rajeh: Es wird viel über den Gegensatz von Live- und Online-Aufführungen gesprochen, aber ich glaube, dass das gar kein Widerspruch ist. Unsere Live-Abende werden auf andere Art zurückkehren. Ich möchte selbst auch mit anderen auf der Bühne stehen – das wollen und das brauchen wir –, aber das Digitale müssen wir deshalb nicht als Bedrohung wahrnehmen, sondern als etwas, das wir ausbauen können.
Ich glaube ganz fest daran, dass Künstler eine neue Kreativität und neue Initiativen finden werden, die online gut funktionieren. Wir selbst tun unser Bestes, um in diese Richtung zu gehen. Außerdem ermöglicht das Internetzugang, das ist ein weiterer Vorteil. Bei unserem Festival BIPOD, zum Beispiel, haben wir Live-Aufführungen aus verschiedenen internationalen Städten zu Gast gehabt. Wenn wir wieder, in der Zeit nach Corona, das Publikum vor Ort einladen können, werden die Besucher maximal 20 Ensembles sehen. Bei einem Online-Festival haben wir so eine Obergrenze nicht, und man kann es sich zudem von der ganzen Welt aus anschauen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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