Gewalt gegen Flüchtlinge in Chemnitz

Aus dem großen in den kleinen Bürgerkrieg

Chemnitz: Am 27. August 2018 gestikulieren und drohen Demonstranten aus der rechten Szene Gegendemonstranten Gewalt an. Nach einem Streit war in der Innenstadt von Chemnitz ein Mann erstochen worden.
Chemnitz: Am 27. August 2018 gestikulieren und drohen Demonstranten aus der rechten Szene Gegendemonstranten Gewalt an. Nach einem Streit war in der Innenstadt von Chemnitz ein Mann erstochen worden. © dpa / picture-alliance
Von Sebastian Engelbrecht · 19.10.2018
Die Jagd auf Einwanderer, Flüchtlinge und Juden in Chemnitz nimmt kein Ende. Am Donnerstag haben Unbekannte in einem türkischen Restaurant einen Brand gelegt. Sebastian Engelbrecht hat mit Flüchtlingen und mit Beobachtern von Neonazis in Chemnitz gesprochen.
Am Schlossteich, in einem idyllischen Park in der Innenstadt von Chemnitz, läuten abends die Glocken. Der Iraner Farhad Keshavarzi, 26, erinnert sich an Freitag abend, den 14. September. Immer wieder seufzt er tief. Keshavarzi saß mit fünf Freunden auf der Schlossteichinsel. Ein Trupp von 20 bis 30 schwarz gekleideten Männern, bewaffnet mit Quarzhandschuhen und Elektroschocker, kontrollierte bei anderen die Ausweise – und kam dann zu ihm.
"Wir haben schon gesehen: Jeder hat zwei Flaschen in der Hand und andere hatten auch Messer, und dann haben sie uns eingekreist. Und dann haben sie uns bedroht: 'Was macht ihr hier? Sie dürfen hier nicht einfach sitzen!' – und so was."
Schnell rückte die Polizei an. Die Männer in Schwarz rannten weg.
"Während sie weggerannt sind, haben sie alle Flaschen auf uns geworfen. Und dann hat eine Flasche meinen Kopf getroffen."
Farhad Keshavarzi blutete am Hinterkopf – und ist nun doppelt traumatisiert. Nach zwei Jahren in Haft in seinem Heimatland Iran.
Einer der Angreifer war Christian K. von der rechtsextremistischen Terrorzelle "Revolution Chemnitz", gegen die der Generalbundesanwalt seit Anfang Oktober ermittelt.

Freitags demonstrieren die Rechten

Immer freitags ist in Chemnitz "Bürgerkrieg" nach den Demonstrationen der Rechten, sagt Abdulrahman Dschibril Ali aus Somalia, 22 Jahre alt, seit drei Jahren Asylbewerber in Sachsen.
"Ich komme aus einem großen Bürgerkrieg. Aber Chemnitz ist ein kleiner Bürgerkrieg. Das ist meine Meinung."
Im persischen Restaurant "Schmetterling", zentral gelegen, bestellten zwei Männer Bier – an einem Freitag abend. Die iranische Christin Shaprak Ghanbari hat das Restaurant im Juni mit ihrem Mann eröffnet.
"Zwei oder drei Männer kamen in unser Restaurant. Sie hatten ein großes Messer bei sich. Unsere Gäste haben gesagt: Sie sind Nazis, es ist besser, sie kommen nicht in unser Restaurant."
Die Männer mit dem Messer taten nichts und gingen. Aber an einem Samstag morgen danach entdeckte Shaprak Ghanbari: Sprünge in der Fernsterscheibe, eine zerritzte Eingangstür.

"Es kommt eine rechtsextreme Bewegung nach der anderen"

Auf dem Chemnitzer Neumarkt vor dem Rathaus riecht es einladend nach Rostbratwurst. Hinter den Mauern dagegen sperrt sich die Pressestelle der Stadt Chemnitz – wie auch die Chemnitzer Polizei – bei Gesprächsanfragen. Allein bei Ines Vorsatz vom städtischen "Lokalen Aktionsplan" für ein "vielfältiges Miteinander" steht die Tür offen. Sie beobachtet Rechtsradikale und Neonazis in Chemnitz seit neun Jahren – vom NSU bis zur "Revolution Chemnitz". Es handle sich um eine "Dauerherausforderung".
"Es kommt eine rechtsextreme Bewegung nach der anderen. Also das hat ja angefangen mit dem Unterstützernetzwerk des NSU. Die Leute sind ja nicht weg. Die Unterstützer sind ja noch da. Das ist weitergegangen mit den ‚Nationalen Sozialisten Chemnitz‘, die auch verboten wurden als rechtsextreme Gruppierung, und das ist weitergegangen mit dem 'Rechten Plenum' mit 'Kopfsteinpflaster' – und natürlich jetzt auch die Chemnitzer 'Revolution', die zwar nicht von Chemnitzern gegründet wurde, aber eben in Chemnitz und in Zusammenhang mit diesen Ausschreitungen."
Und die Chemnitzer Neonazis sind gut vernetzt. Man trifft sich regelmäßig bei sogenannten "Zeitzeugengesprächen". Koordinator ist Martin Kohlmann, Fraktionsvorsitzender von "Pro Chemnitz" im Stadtrat.
"Zeitzeugengespräche mit SS-Angehörigen, mit Holocaust-Leugnern, und das sind sehr große Veranstaltungen, bei denen auch Einnahmen generiert werden für die rechte Szene und die einen großen Vernetzungscharakter haben und Bindungswirkung für die ganze Szene."
Abseits vom Zentrum, im grünen Stadtteil Kaßberg, hat das "Kulturbüro Sachsen" seinen Chemnitzer Sitz. Es unterstützt Demokratisierungsinitiativen. Steven Seiffert kennt die rechte Szene in der Stadt.
"Fakt ist aber durchaus, dass die Mobilisierungserfolge hier einfach überdurchschnittlich sind und dass die Vernetzung unheimlich gut funktioniert."

"Wir können nicht mehr in dieser Stadt bleiben"

In einer Stadt, in der Einwanderer gejagt werden, will Abdulrahman Dschibril Ali aus Somalia nicht länger leben. Er plant, nach Düsseldorf umzuziehen.
"Hier kann ich nicht leben in Chemnitz."
Und Farhad Keshavarzi will ihm nach Westen folgen, am liebsten nach Bochum.
"Wir haben uns gesagt – Ja, wir können nicht mehr in dieser Stadt bleiben oder wohnen oder leben."
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