Chisako Wakatake: "Jeder geht für sich allein"

Eine Japanerin erzählt auf Vogtländisch

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Das Buchcover "Jeder geht für sich allein" von Chisako Wakatake ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Sie wollte mehr: In "Jeder geht für sich allein" von Chisako Wakatake erinnert sich die Romanheldin Momoko. © Deutschlandradio / Cass Verlag
Von Katharina Borchardt · 07.07.2021
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Die 74-jährige Momoko schaut zurück auf ihr unspektakuläres Leben. Je stärker sie nachdenkt, desto häufiger drängt ihr nordostjapanischer Heimatdialekt hervor. Für die deutsche Übersetzung wurden diese Passagen ins Vogtländische übertragen.
Momoko steckt voller Stimmen. Mit zunehmendem Alter kann die 74-Jährige sie immer besser wahrnehmen. Da sind zunächst die Stimmen ihrer Liebsten, allen voran die der Großmutter und die des verstorbenen Ehemannes Shuzo.
Da sind aber auch ihre eigenen Stimmen aus verschiedenen Lebensperioden. In der Stille ihres kleinen Hauses am Rand von Tokio kann Momoko ihnen gut zuhören.

Ihre Träume ließ sie sausen

Zu ihrer Überraschung drängt dabei der Tōhoku-Dialekt ihrer nordostjapanischen Heimat immer häufiger hervor. Er scheint den tieferen Erinnerungsschichten ihrer Seele zu entschlüpfen. Das verwirrt und freut sie gleichermaßen, hat sie sich die Sprache ihrer Herkunft doch so rasch wie möglich abgewöhnt, als sie 1964 einen uninspirierenden Verlobten sitzen ließ und Hals über Kopf nach Tokio zog.
Momoko wollte mehr. Sie wollte etwas machen aus ihrem Leben, was sich aber als schwieriger erwies, als gedacht. Zumal sie bald schon den sympathischen Shuzo kennenlernte, der ihr zum Heimatersatz wurde und mit dem sie zwei Kinder bekam. Ihre Träume ließ sie sausen – welche waren das eigentlich noch mal, fragt sie sich heute –, führte aber bis zu Shuzos Tod vor 15 Jahren eine durchaus glückliche Ehe mit ihm.
Die inzwischen erwachsenen Kinder treten im Roman, der ein ganzes Jahr im Leben der alternden Frau erzählt, nur ganz am Rande auf. Aufgrund von innerfamiliären Verletzungen, die Momoko nicht ganz versteht, halten sie Distanz zur Mutter.

Zwei renommierte Debütpreise

Chisako Wakatake war bereits 63 Jahre alt, als ihr erster Roman "Jeder geht für sich allein" 2017 in Japan erschien. Das sorgte für einiges Aufsehen, zumal sie dafür – als bisher älteste Preisträgerin – mit zwei renommierten Debütpreisen ausgezeichnet wurde. Zum Bestseller aber wurde ihr Roman, in den viele Eckdaten ihrer eigenen Biografie eingeflossen sind, weil er so überaus ehrlich ein Frauenleben reflektiert.
Spektakulär war dieses Leben nicht. Glück aber, so arbeitet Chisako Wakatake auf so lebenskluge Weise heraus, dass es schon wieder beiläufig wirkt, liegt nicht im Erreichten, sondern in einer grundsätzlichen Sensibilität dem Leben gegenüber. Und in einer Gelassenheit, die sich erst im Alter einstellt.

Drei sprachliche Intimitätsstufen

Davon erzählt Chisako Wakatake gewiefterweise auf drei sprachlichen Intimitätsstufen. Aus einer etwas distanzierteren Sie-Perspektive schaut sie einordnend auf Momokos Alltag. In zwei Ich-Perspektiven – eine davon hochsprachlich, die andere dialektal – kommt Momoko aber auch selbst zu Wort. Je persönlicher sie dabei wird, desto knapper und intuitiver wird ihr Erzählen und desto stärker verfällt sie in den Tōhoku-Dialekt ihrer Heimatregion.
Um diese seelennahe Sprache auch in der deutschen Übersetzung spürbar zu machen, hat der Leipziger Philologe Heinrich Schneider die betreffenden Passagen verblüffend apart ins Vogtländische gebracht, das dem Tōhoku-Dialekt in seinem weichen Duktus ähneln soll.
Eine ungewöhnliche Idee, die aber voll aufgeht. Sehr schnell löst sich der Dialekt von seiner südostdeutschen Regionalität und wirkt nur noch als das, was er hier ist: die innerste aller Stimmen einer empfindsamen älteren Frau.

Chisako Wakatake: "Jeder geht für sich allein"
Aus dem Japanischen übersetzt von Jürgen Stalph
Vogtländische Dialektpassagen von Heinrich Schneider
Cass-Verlag, Bad Berka 2021
109 Seiten, 22 Euro

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