Chinesischer Autor zur Protestbewegung

"Übermorgen wird Hongkong blind", dichtet Liao Yiwu

11:27 Minuten
Liao Yiwu im Halbschatten
Liao Yiwu appelliert an die Welt: Lasst die Hongkonger nicht allein! © picture alliance/dpa/Ulises Ruiz Basurto
Liao Yiwu im Gespräch mit Frank Meyer · 14.08.2019
Audio herunterladen
Verletzte, Verhaftete, Polizeigewalt: Die Proteste in Hongkong eskalieren täglich weiter. Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu hat wenig Hoffnung, dass die Angelegenheit gut ausgeht. In einem neuen Gedicht zeichnet er ein düsteres Zukunftsszenario.
Seit mehr als zwei Monaten protestieren Menschen in Hongkong gegen die Unterdrückung ihrer Freiheit. Anfangs ging es noch um einen Gesetzentwurf der Regierung zur Auslieferung mutmaßlicher Krimineller an China. Mittlerweile sind die Demonstrationen zu einer breiten Bewegung angewachsen. Am Flughafen von Hongkong eskalieren die Proteste zu gewaltsamen Ausschreitungen. Eine Demonstrantin wurde durch ein Gummigeschoss der Polizei schwer am Auge verletzt. Seitdem tragen die Menschen Augenklappen als Ausdruck der Solidarität.
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu, der seit 2011 in Deutschland im Exil lebt, sieht die Entwicklung mit Sorge. Seinem Eindruck zufolge gebe es eine enorme Steigerung der Gewalt, sagt er im Deutschlandfunk Kultur. Es solle die demokratische Bewegung jüngster Zeit unterdrückt werden. Täglich gebe es Verhaftungen in Hongkong aus politischen Gründen.

Tiananmen ermutigte zum Protest

"Die Quelle von Mut und Ausdauer der Protestierenden sehe ich auch in den Ereignissen auf dem Tiamanmen-Platz vor 30 Jahren", sagt Liao Yiwu. Durch die Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung zu dem Massaker hätten besonders die jungen Menschen gelernt: "Wenn wir keinen Widerstand leisten, werden wir alles verlieren." Als 2015 fünf Buchhändler aus Hongkong entführt worden seien, hätten viele gesehen, wie unmittelbar die Gefahr für sie sei. "Das hatte einen Ermutigungseffekt auf die jungen Menschen in Hongkong."
Nach Meinung einiger Demokratie-Aktivisten aus China, so der Autor, sollten die Protestierenden einen Kompromiss mit den Machthabern suchen, aber sie würden die Demonstranten in Hongkong nicht verstehen. Diese hätten "aus Verzweiflung und Wachsamkeit" die Protestbewegung weitergeführt. "Sie haben gesehen: Wenn sie nicht weiterkämpfen, dann werden sie alles verlieren: ihre Heimat, ihre Freiheit, ihre Rechte – alles."

Versagen der ganzen Welt

In einem neuen Gedicht zeichnet Liao Yiwu ein düsteres Zukunfsszenario: "Heute zerschoss eine Kugel das Auge eines Mädchens/Morgen zerschießt eine Kugel den Kopf eines Mannes/Übermorgen wird Hongkong blind."
Seine Einschätzung zur Zukunft der Bewegung ist gespalten: "Das ist das Ende unserer Hoffnung und das Ende von Demokratie und Freiheit. Ich hoffe, dass die Proteste in Hongkong Erfolg haben. Aber ich bin nicht optimistisch, dass das wirklich so geschieht." Wenn das Szenario aus seinem Gedicht Realität werde, dann bedeute das ein Scheitern der ganzen Welt. "Wenn wir die Honkonger allein lassen, werden wir zusammen versagen."

Liao Yiwu, geboren 1958, ist seit 2011 in Deutschland resp. Berlin. Er ist Schriftsteller und Lyriker, wurde mit "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten" 2009 international bekannt, bekam 2009 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und ist Träger des Freedom Awards des unabhängigen chinesischen PEN-Zentrums.

Schon sein Vater wurde während der Kulturrevolution als Revolutionsgegner angeklagt. Liao Yiwu wuchs in großer Armut auf dem Land auf, arbeitete unter anderem als Koch und schrieb seit 1980 Gedichte. Wegen seines Gedichts über das Tiananmen-Massaker geriet er in das Visier der chinesischen Regierung, wegen seines Films "Requiem" kam er schließlich ins Gefängnis wegen "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda mit ausländischer Hilfe". Ihm wurde mehrfach die Ausreise verweigert, 2010 konnte er schließlich doch ausreisen und am Ínternationalen Literaturfestival in Berlin teilnehmen. Kurz danach zog er ganz nach Berlin.

Mehr zum Thema