Donnerstag, 28. März 2024

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Ehemaliger EU-Kommissar Günter Verheugen
"Fremdbestimmung aus Brüssel ist ein ernsthaftes Problem"

Der ehemalige EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik, Günter Verheugen, hat der Europäischen Union Fehler im Umgang mit Großbritannien vorgeworfen. Man hätte mehr auf die sehr vernünftigen Wünsche aus London eingehen müssen, sagte Verheugen im DLF.

Günter Verheugen im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 21.06.2016
    Günter Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission.
    Günter Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission. (imago stock&people)
    Der frühere EU-Spitzenbeamte erhob Vorwürfe gegen die europäischen Institutionen. "Fehlentwicklungen, die von britischer Seite präzise benannt wurden, seien nicht ernst genommen worden", so Verheugen. Dies kreide er der europäischen Politik bitter an. Als Beispiel nannte der SPD-Politiker die Frage der Kompetenzen. Es gebe eine Tendenz, immer mehr nach Brüssel zu zentralisieren. Verheugen sprach von einem ernsthaften Problem der Selbstbestimmung gegenüber der "vermuteten und teilweise bestehenden Fremdbestimmung aus Brüssel".
    Als weiteren Kritikpunkt nannte Verheugen das "Ausmaß der Bürokratie". Es gebe zudem "demokratische Defizite" und "zu viel Harmonisierung und Gleichmacherei". Es sei das Empfinden der Menschen, dass immer mehr Dinge in Brüssel geregelt würden, betonte Verheugen. Diese Art der Entscheidungen falle in einer Art und Weise, die die Bürger nicht verstehen und beeinflussen könnten.
    Verheugen betonte, ein EU-Austritt Großbritanniens würde beide Seiten schaden. Die Europäische Union hätte dann weniger Gewicht in der Welt. Er halte dies für die schwerwiegendste Folge eines möglichen Brexits.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: 28 Länder sind Mitglied in der Europäischen Union und bisher ist die Zahl ihrer Mitglieder immer nur gestiegen. Doch das könnte sich am Donnerstag ändern, denn übermorgen stimmen die Briten über die Frage ab, ob das Vereinigte Königreich in der EU bleiben oder austreten soll. Nachdem die Brexit-Befürworter zwischenzeitlich die Nase vorn hatten, haben nach dem Mord an der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox die Brexit-Gegner zuletzt wieder Boden gutgemacht. Umfragen sehen aber weiter ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Darüber können wir jetzt sprechen mit Günter Verheugen von der SPD, ehemaliger EU-Erweiterungskommissar, stellvertretender Kommissionspräsident. Guten Morgen, Herr Verheugen.
    Günter Verheugen: Schönen guten Morgen!
    Heckmann: Herr Verheugen, wie ironisch ist es eigentlich, dass ausgerechnet der ehemalige Erweiterungskommissar dabei zusehen muss, wie ein wichtiges Mitgliedsland dabei ist, die EU womöglich zu verlassen?
    Verheugen: Ironisch ist ja sehr milde ausgedrückt. Es ist schon erschütternd zu sehen, dass unsere Vorstellung, Europa könnte immer enger zusammenwachsen, jetzt so massiv in Frage gestellt wird, denn man muss ja befürchten, wenn es zu einem Brexit käme, dann würde es dabei nicht bleiben. Das würde ja möglicherweise Nachahmungstaten anregen. Ich halte das nicht für ironisch, sondern für ziemlich katastrophal.
    "Die Briten nicht mit vagen Versprechungen abspeisen"
    Heckmann: Ziemlich katastrophal, sagen Sie. Aber muss es nicht das Natürlichste auf der Welt eigentlich sein, dass man einem Club beitritt und ihn dann auch wieder verlassen kann?
    Verheugen: Ja selbstverständlich! Die Regel gibt es ja auch. Das ist ja in den europäischen Verträgen so geregelt. Und man kann auch niemanden aufhalten und niemand sagt ja auch, die Briten dürfen das nicht. Aber man muss sich schon die Frage stellen, weshalb die Briten das in so großer Zahl offenbar wollen. Wir wissen ja nicht, was rauskommt. Da können wir ja nur spekulieren. Aber es sind viele, die raus wollen. Und man muss nicht die Verantwortung für alles übernehmen. Ich will das mal ganz klar sagen. Wir sind nicht verantwortlich in Europa für die Hetze der britischen Massenpresse gegen alles, was europäische Politik ist und war in den letzten zwei Jahrzehnten. Wir sind nicht verantwortlich für das bornierte Verhalten eines Teils der Tories, die immer noch glauben, dass sie in einem Empire leben. Es gibt Unzufriedenheiten in Großbritannien mit den politischen Ergebnissen der EU, den Erscheinungsformen. Das gibt es fast überall und die ist ja auch berechtigt. Aber man muss schon ganz klar dazu sagen: Die zwei wichtigsten Probleme, die wir zurzeit in der EU haben, Krisen, mit denen wir uns herumschlagen, die Flüchtlingskrise, die eine gemeinsame Krise ist wegen des Schengen-Raums, und die Eurokrise oder die Schuldenkrise, die eine gemeinsame Krise ist wegen der Währungsunion, betrifft die Briten nicht. In beiden Fällen sind sie überhaupt nicht dabei. Also muss man nicht alle Schuld hier in Brüssel abladen, obwohl ich schon dazu neige zu sagen, man hätte ein bisschen mehr tun können, ja müssen, um die britischen Wünsche, die in den letzten Jahren geäußert worden sind und die sehr vernünftig waren, zu erfüllen und die Briten nicht mit vagen Versprechungen abzuspeisen.
    Heckmann: Das ist ja jetzt auch die Frage. Was genau ist denn da falsch gelaufen? Sie sagen, Brüssel muss nicht die Verantwortung für alles übernehmen. Aber möglicherweise sind da ja auch Fehler auf der Europäischen Unionsseite gemacht worden. War es ein Fehler, die Union immer weiter zu vertiefen, obwohl das viele einfach gar nicht wollen, was ja schon die Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Frankreich zum Verfassungsvertrag gezeigt haben?
    Verheugen: Nun, das ist ja eine Entwicklung der jüngeren Zeit, dass wir keine integrationswilligen Mehrheiten mehr haben. Und das hat etwas zu tun, glaube ich, viel mehr mit Angst vor Veränderung, mit Angst vor Globalisierung, mit Angst vor Terror, mit Angst vor Islam. Europa kommt da sozusagen als ein zusätzliches Element noch obendrauf. Was ich der europäischen Politik bitter ankreide, ist die Tatsache, dass Fehlentwicklungen innerhalb der EU, die von den Briten präzise benannt worden sind, einfach nicht ernst genommen wurden.
    "Das ist alles viel zu bürokratisch und technokratisch"
    Heckmann: Zum Beispiel?
    Verheugen: Zum Beispiel die Frage der Kompetenzen, wer macht was. Es ist einfach richtig, dass wir eine Tendenz haben, immer mehr nach Brüssel zu zentralisieren. Richtig wäre es, mehr und mehr zurückzugeben in die Verantwortung der Mitgliedsländer und Regionen.
    Heckmann: Aber wer macht das? Wer ist dafür verantwortlich, dass immer mehr nach Brüssel geschoben wird, obwohl die Menschen das gar nicht wollen?
    Verheugen: Letztlich sind das alle drei europäischen Institutionen, die Kommission, die die Vorschläge macht, und der Rat, in dem alle Mitgliedsländer vertreten sind, und das Parlament, das direkt gewählt ist, die diesen Dingen zustimmen. Und die nationalen Parlamente ja auch! Man muss immer sehen: Brüssel kann nichts machen, was die Mitgliedsländer nicht vorher ausdrücklich erlaubt haben. Der Zustand, in dem die EU sich heute befindet, was ihre Zuständigkeiten und Möglichkeiten angeht, ist der Zustand, den die Mitgliedsländer gewollt haben. Es wäre übrigens auch nicht möglich gewesen, ohne die Zustimmung der Briten. Die Briten haben allen diesen Verträgen zugestimmt. Sie haben in bestimmten Fällen für sich allerdings besondere Rechte ausgehandelt, nämlich dass sie nicht mitmachen müssen.
    Heckmann: Wenn Sie sagen und wenn Sie beklagen, Herr Verheugen, dass immer mehr Macht nach Brüssel verschoben wurde, obwohl das die Menschen eigentlich gar nicht wollen, dann sagen Sie auch, die Brexit-Befürworter, die haben schon ein Argument auf ihrer Seite, wenn sie sagen, wir müssen unsere Souveränität wieder bekommen?
    Verheugen: Ja.
    Heckmann: Auch die Kontrolle über die Grenzen, das ist ja auch ein wichtiges Argument.
    Verheugen: Ja. Was die Frage der Souveränität angeht, so sagen wir, das Problem der Selbstbestimmung gegenüber der vermuteten und teilweise auch bestehenden Fremdbestimmung aus Brüssel, das ist ein ernsthaftes Problem. Das ist genauso ernsthaft wie das Problem, dass wir zu viel Harmonisierung und Gleichmacherei haben, genauso ernsthaft wie das Problem, dass das alles viel zu bürokratisch und technokratisch ist, wenig transparent, und dass es auch demokratische Defizite gibt.
    Heckmann: Da horche ich auf, Herr Verheugen. Fremdbestimmung aus Brüssel, das sagen Sie hier im Deutschlandfunk um 8:17 Uhr?
    Verheugen: Ja!
    "Ein Austritt Großbritanniens würde beiden Seiten ganz schwer schaden"
    Heckmann: Das ist ein Tatbestand?
    Verheugen: Es ist das Empfinden der Menschen, dass mehr und mehr Dinge geregelt werden, die ihr ganz persönliches Leben betreffen, ihren Alltag betreffen, eingreifen in die Art und Weise, wie sie leben wollen, und dass diese Entscheidungen in einer Art und Weise fallen, die sie nicht beeinflussen und auch nicht verstehen können und auch nicht wollen. Das muss man doch erkennen, dass wir dieses Problem überall in Europa haben.
    Heckmann: Welche Folgen, Herr Verheugen, hätte denn ein Brexit für Großbritannien, aber auch für die EU? Wäre das wirklich so eine Katastrophe, wie Sie gerade angedeutet haben, oder wäre das nicht einfach ein Schritt, der zu akzeptieren wäre und mit dem man auch leben könnte?
    Verheugen: Das Wort "Katastrophe" habe ich ja bezogen auf meine eigene Befindlichkeit, weil Sie mich befragt haben. Es ist sehr schwer vorherzusehen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ein Austritt Großbritanniens beiden Seiten ganz schwer schaden würde.
    Heckmann: Inwiefern?
    Verheugen: Es würde den Verbleibenden in der Europäischen Union politischen und wirtschaftlichen Schaden zufügen, einfach dadurch, dass wir weniger Gewicht hätten in der Welt. Ich halte das vielleicht für die schwerwiegendste Folge, dass die ohnehin schon zu beobachtende Marginalisierung der Europäischen Union in Fragen der globalen Politik sich verschärfen würde. Europäische Außen- und Sicherheitspolitik ohne Großbritannien stelle ich mir außerordentlich schwierig vor. Es wird auch dazu kommen, dass Investoren außerhalb Europas und möglicherweise auch innerhalb Europas Zweifel haben, wie stabil das ganze Projekt noch ist. Ich habe ja schon darauf hingewiesen, dass man befürchten muss, dass auch anderswo Regierungen unter Druck geraten werden, den britischen Weg zu gehen. Das gilt übrigens für beide möglichen Ausgänge. Wir sind in keiner Win-win-Situation hier. Wenn die Briten gehen, wird der Druck auf bestimmte Regierungen steigen, Länder, in denen es starke antieuropäische populistische Bewegungen gibt. Wenn sie bleiben, dann gibt es aber ein Rezept für Regierungen, die gerne für sich etwas durchsetzen möchten auf Kosten der anderen. Man muss dann nur ernsthaft genug mit dem Austritt drohen und dann kriegt man schon was man will.
    "Hinterher kann die Lage für die Briten nicht besser sein"
    Heckmann: Herr Verheugen, dass die Europäische Union schwächer würde bei einem Brexit, das dürfte den Brexit-Befürwortern auf der Insel in Großbritannien herzlich egal sein.
    Verheugen: Ja, so ist es. Im Gegenteil, sogar erwünscht!
    Heckmann: Und die sagen auch, die wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien - das sagt zum Beispiel Boris Johnson, der ehemalige Bürgermeister Londons -, das wird kaum Auswirkungen haben.
    Verheugen: Ja, da bin ich anderer Meinung. Ich glaube, da versteht Johnson nicht so richtig, wie stark Großbritannien profitiert vom gemeinsamen Markt. Und die Vorstellung, dass mit dem gemeinsamen Markt für die Briten alles so weitergeht wie bisher, dass sie praktisch mit der Europäischen Union dann eine Freihandelszone bilden, in der sie alle die Vorteile weiter genießen, die sie jetzt schon haben, diese Vorstellung kann ich nicht teilen. Wir werden dann vor schwierigen Verhandlungen stehen. Aber eines ist für mich klar: Hinterher kann die Lage für die Briten nicht besser sein. Es gibt keinen gemeinsamen Markt ohne gemeinsame Regeln, und diese gemeinsamen Regeln, die wollen sie nicht. Der Punkt ist nur: In Zukunft müssten sie dann die gemeinsamen Regeln übernehmen, ohne dass sie überhaupt Einfluss darauf nehmen können.
    Heckmann: Herr Verheugen, denken Sie, Europa sollte sich entwickeln nach dem Modell Kerneuropa und Randeuropa?
    Verheugen: Das ist eine Möglichkeit, die ich aber für die allerletzte Möglichkeit halte und nicht etwas, was ich mir wünschen würde. Ich bin da vielleicht ein bisschen altmodisch. Ich denke, die europäische Idee gehört nicht nur einigen, sie gehört allen Menschen, die in Europa leben, und alle müssen das Recht und die Möglichkeit haben, daran mitzuwirken. Mein erster Gedanke wäre also nicht, jetzt ein Kerneuropa ins Auge zu fassen, sondern mein erster Gedanke wäre, was können wir tun, um die Fliehkräfte, die wir überall sehen, zu bändigen und das Projekt wieder auf Kurs zu bringen, und zwar mit allen.
    "Wir brauchen eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik"
    Heckmann: Und was wären die drei wichtigsten Punkte?
    Verheugen: Na ja, ich denke, der wichtigste Punkt ist natürlich, die aktuellen Krisen, in denen wir uns befinden, tatsächlich zu bewältigen. Dazu braucht es aber eines viel größeren politischen Mutes und einer stärkeren politischen Bereitschaft in den Mitgliedsländern. Wir brauchen ein stärkeres Verständnis dafür, dass die europäischen Gesamtinteressen wichtiger sind als kurzfristige nationale Partikularinteressen.
    Heckmann: Also mehr Europa statt weniger, wie viele Menschen es wollen?
    Verheugen: Das habe ich nicht gesagt. Nicht mehr Europa in dem Sinne, dass wir in der nächsten Zeit daran gehen sollten, zusätzliche Souveränität von der nationalen auf die supranationale Ebene zu übertragen. Das halte ich nicht für realistisch und im Augenblick auch nicht für wünschenswert. Ich würde bevorzugen zu sagen, wir machen das, was wir haben, so gut es geht. Wir machen es besser! Und wenn die Zustimmung der Menschen dann wieder steigt und wenn sie wieder da ist, dann kann man überlegen und darüber nachdenken, wie der nächste Schritt aussehen sollte. Beispielsweise gibt es ja eine große Zustimmung in der gesamten europäischen Öffentlichkeit zu der These, dass wir uns in der Welt von morgen nur behaupten können, wenn wir eine wirklich gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik haben. Die brauchen wir auch!
    Heckmann: Letzte Frage, Herr Verheugen. Die Meinungsforscher, die sehen ja ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Die Buchmacher in Großbritannien, die sehen eine gut 60-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien in der EU verbleibt. Wenn Sie Ihr Geld verwetten würden, auf was würden Sie tippen?
    Verheugen: Ich würde auf so was niemals wetten. Aber wenn Sie mich schon fragen: Nach meiner Erfahrung haben die Buchmacher in Großbritannien meistens mit ihren Vorhersagen Recht. Wenn jemand unbedingt Geld verlieren will oder Geld setzen will, dann sollte er darauf setzen, dass die Briten bleiben.
    Heckmann: Und Sie gehen davon aus, dass Großbritannien in der EU bleibt?
    Verheugen: Ich hoffe! - Ich hoffe.
    Heckmann: Der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen war das von der SPD. Herr Verheugen, danke Ihnen für Ihre Zeit!
    Verheugen: Gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.