Donnerstag, 28. März 2024

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Erdogan-Auftritt in Deutschland
"Absagen? Mit welcher Begründung?"

Der türkische Ministerpräsident Erdogan habe zwar die "Bodenhaftung verloren", sagte Cem Özdemir im Deutschlandfunk. Dessen bevorstehenden Auftritt in Köln absagen würde der Grünen-Parteivorsitzende dennoch nicht. Stattdessen kritisiert er die Integrationspolitik der Union.

Cem Özdemir im Gespräch mit Jasper Barenberg | 19.05.2014
    Cem Özdemir (Die Grünen)
    Cem Özdemir (Die Grünen) (dpa picture alliance)
    Er könne zwar den Zorn seiner Kollegen verstehen, sagte Cem Özdemir in dem Gespräch. Aber vor allem die CDU- und CSU-Politiker, die sich nun äußerten, "sollten sich über sich selber ärgern". Sie hätten dazu beigetragen, "dass viele Türken nicht Deutsche geworden sind" und sich noch immer als Ausländer verhielten, indem sich CDU/CSU jahrelang geweigert hätten, das Staatsbürgerschaftsrecht zu ändern. So hätten Türken in Deutschland weiterhin Wahlrecht für die Türkei, und in diesem Rahmen mache Erdogan nun Wahlkampf für sich.
    Nach dem Grubenunglück in Soma hatten sich deutsche Politiker parteiübergreifend gegen einen geplanten Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in Köln ausgesprochen. Politiker von CDU/CSU, SPD und Grünen warfen Erdogan vor, ungeachtet der Katastrophe in der Türkei mit mehr als 300 Toten Wahlkampf in Deutschland betreiben zu wollen. Der türkische Ministerpräsident Erdogan will am Samstag in Köln auftreten.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Betreiber und Regierung haben alle Verantwortung bisher weit von sich gewiesen. Wütend hat das viele Menschen in Soma in der Türkei gemacht, Menschen, die über 301 tote Bergleute trauern und die entsetzt sind, mit wie wenig Fingerspitzengefühl Ministerpräsident Erdogan mit diesem größten Grubenunglück in der Geschichte des Landes umgeht, der das Werk jetzt hat abriegeln lassen, um weitere Proteste zu verhindern. Gerade wo die Bergungsarbeiten für beendet erklärt wurden, beginnt jetzt die Suche nach den Verantwortlichen. 25 Verdächtige hat die Polizei festgenommen, einige später wieder auf freien Fuß gesetzt, für andere wurde ein Haftbefehl beantragt.
    Am Telefon ist der Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen, Cem Özdemir.
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Barenberg.
    Barenberg: Herr Özdemir, wir alle haben die Bilder gesehen, Sie, vermute ich, auch, wie ein enger Berater des türkischen Regierungschefs auf einen Mann eintritt, als der schon hilflos am Boden liegt, wie Erdogan selber mit wütenden Demonstranten aneinander gerät, selber handgreiflich wird, solche Grubenunglücke unvermeidlich nennt. Erleben wir da einen Politiker, der endgültig den Bezug zur Wirklichkeit und den Menschen im Land verloren hat?
    Özdemir: Erdogan hat Bodenhaftung verloren
    Özdemir: Er hat jedenfalls einen erstaunlichen Mangel an Empathie, und zum anderen: Offensichtlich hat er nicht mit diesen Reaktionen gerechnet. Er ging davon aus, dass ihn dort jubelnde Massen erwarten. Das war nun etwas anders, und das übliche Muster bei ihm ist, dass immer dann, wenn es Proteste gibt, er dafür alle möglichen Verschwörungen verantwortlich macht, das Ausland verantwortlich macht, nur seine eigene Politik nicht, und das spricht dafür, dass er tatsächlich die Bodenhaftung verloren hat, sich in einer Scheinwelt zurückgezogen hat, wohl auch von seinen Beratern nicht mehr darüber informiert wird, was im Land wirklich passiert.
    Barenberg: Zensur im Internet, politische Justiz, massive Korruption – die Liste der Vorwürfe gegen Erdogan, gegen die AKP ist ja lang. Trotzdem hat die Partei Ende März die Kommunalwahlen mit großem Abstand geradezu triumphal gewonnen. Wie erklären Sie sich, dass die Zustimmung zu Erdogan keinen Schiffbruch erleidet bei alledem?
    Özdemir: Erdogans Stärke ist die Schwäche der Opposition
    Özdemir: Ich würde nicht triumphal sagen. In Istanbul war die Wahl ja sehr knapp. Wenn er Istanbul verloren hätte – da gibt es ja immer auch noch Vorwürfe, dass es Manipulationen gab -, dann hätte das Bild schon etwas anders ausgesehen. Aber Sie haben recht: Er hat die Wahl gewonnen, ganz eindeutig, deutlich stärker als erwartet, vor allem angesichts der Schwere der Vorwürfe in Sachen Korruption. Es zeigt aber, für Wähler in Zentralanatolien ist die Frage, ob man Twitter-Zugang hat oder nicht, ziemlich irrelevant, weil sie noch nicht mal einen Internet-Zugang haben. Für sie ist wichtig, wie sieht das Gesundheitswesen aus, werde ich dort behandelt, wenn ich ins Krankenhaus komme und nicht reich bin. Für sie ist wichtig, gibt es einen Job für mich und meine Kinder, und da hat Erdogan vor allem in der Anfangszeit eine Menge geleistet und die Leute sind da etwas fatalistisch und sagen, korrupt sind irgendwie alle türkischen Regierungen, die sind zwar vielleicht auch korrupt, füllen die eigenen Taschen, aber ein bisschen was bleibt auch für uns übrig. Das ist der Grund, warum Erdogan vor allem in Zentralanatolien die Wahlen gewonnen hat. Das heißt, die Stärke von Erdogan ist vor allem eine Schwäche der Opposition.
    Barenberg: Und die Stärke von Erdogan bezieht sich auch darauf, dass es nur eine Minderheit ist, die wirklich diese Kritik nach vorne treibt.
    Özdemir: Da muss man ein bisschen aufpassen bei uns im Westen. Die uns sympathischen jungen Menschen auf dem Gezi-Park sind nicht die Mehrheit in der Türkei. Das betrifft wirklich nur einen kleineren Teil der türkischen Bevölkerung. Jetzt bei diesem Grubenunglück, bei der Katastrophe in Soma könnte es anders sein, denn hier sind tatsächlich Arbeiter betroffen, die protestieren, und die Betroffenheit ist im ganzen Land, und viele stellen sich natürlich Fragen, hätte man das nicht verhindern können?
    Es wird jetzt wie üblich in der Türkei, wenn es viele Proteste gibt, sicherlich die eine oder andere Festnahme geben, Leute im Bergwerk, aber die eigentlichen Fragen, die man in einer normalen funktionierenden Demokratie stellen würde, hätte das Unglück verhindert werden können, hätte die Regierung was machen können, stimmt es, dass seit 2010 Experten vor den Gefahren im Bergwerk gewarnt haben, bessere Fluchtwege angemahnt haben, warum ist der Oppositionsantrag abgebügelt worden, müssen jetzt Rücktritte folgen bis zu Ministern, die werden in der Türkei natürlich nicht gestellt werden und sie wird vor allem keine Konsequenz haben, und das könnte schon dazu führen, dass Herrn Erdogan langsam aber sicher auch die Zustimmung bei seinen eigenen Anhängern verlustig geht.
    Barenberg: Am 10. August sollen die Türken ein neues Staatsoberhaupt wählen. Alle rechnen damit, dass Erdogan antreten wird. Wird der Weg dann holpriger, oder muss man nicht sagen, dass es keine Folgen haben wird, absehbar jedenfalls, Stand heute?
    Özdemir: Er hat ja nicht mehr als 50 Prozent der Menschen hinter sich. Es sind 45 Prozent bei den Kommunalwahlen gewesen. Das heißt, theoretisch gäbe es eine Mehrheit gegen ihn. Die übersetzt sich aber bislang nicht in eine politische Mehrheit, denn diejenigen, die nicht für Erdogan sind, sind dies ja aus sehr unterschiedlichen Gründen, und von einer prokurdischen Bewegung bis zu türkischen Nationalisten, die alle unter einen Hut zu bringen, ist fast unmöglich. Insofern ist es doch sehr wahrscheinlich, dass er die Wahl gewinnt, und er rechnet sich bei einer Wiederwahl zehn weitere Jahre an der Spitze des Staates aus. Und das wäre natürlich dann nicht mehr nur ein Präsident, wie das bislang der Fall war, der übers Parlament gewählt wird, sondern ein direkt gewählter. Das heißt, wir hätten eine Art Präsidialdemokratie in der Türkei, und es muss einem klar sein, mit einem Ministerpräsidenten, der dann zum Staatspräsidenten der Türkei wird, namens Erdogan, dürfte die Türkei wohl kaum in die Europäische Union gehen und dürfte der Reformprozess zum Stillstand kommen. Das heißt, für die Türkei bedeutet das Stagnation.
    Erdogan spricht an einem Rednerpult in ein Mikrofon, das er mit der linken Hand hält; mit rechts gestikuliert er. Im Hintergrund das Logo der Union Europäisch-Türkischer Demokraten UETD.
    Der türkische Ministerpräsident Erdogan bei seinem Besuch in Köln 2006 (dpa / Oliver Berg)
    Barenberg: Sollte Europa darauf dann auch reagieren und die Gespräche auf Eis legen über die Mitgliedschaft, die gerade mühsam wieder in Gang gebracht wurden?
    Planen für die Zeit nach Erdogan
    Özdemir: Wir können kein Interesse daran haben, dass die Türkei sich wegentwickelt von Europa. Dafür ist das Land zu wichtig, dafür ist die Lage der Türkei zu bedeutend. Und denken Sie an die umliegenden Länder der Türkei. Auch daran können wir kein Interesse haben, dass die Situation weiter eskaliert. Man muss aber realistisch sein. Mit Herrn Erdogan, in welcher Funktion auch immer in der Türkei, ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass die Türkei sich weiter an Europa annähert.
    Was wir jetzt machen müssen, ist planen für die Zeit nach Erdogan, das heißt die Beziehungen zur Türkei intensiv halten, gleichzeitig hoffen, dass der Prozess der Öffnung der Türkei von unten weitergeht.
    Barenberg: Lassen Sie uns noch über den bevorstehenden Besuch Erdogans am nächsten Wochenende in Köln sprechen, wo er vor Tausenden Anhängern auftreten will. Es gibt jetzt zahlreiche Stimmen von Politikern, die sich nicht nur darüber empören, sondern auch fordern, den Auftritt abzusagen. Ist das eine gute Idee?
    Özdemir: Es gibt keine Begründung für Absage des Erdogan-Auftritts in Deutschland
    Özdemir: Ich wüsste gerne, mit welcher Begründung. Ich meine, ich habe auch schon mal bei dem Grünen-Ortsverband in Washington oder bei dem Grünen-Ortsverband in Brüssel, beides bekanntermaßen keine deutschen Städte, Wahlkampf gemacht und dort für grüne Stimmen geworben, weil dort sehr viele deutsche Staatsbürger tätig sind, und ich bin mir sicher, Kollegen von mir auch. Da sind zwar zugegebenermaßen etwas weniger Leute zugegen wie bei den Besuchen von Herrn Erdogan. Ich kann den Zorn des einen oder anderen Kollegen anderer Parteien, insbesondere der CDU/CSU verstehen, aber sie sollten sich dann vielleicht über sich selber ärgern, denn sie selber haben, indem sie sich geweigert haben, ein Staatsbürgerschaftsrecht über viele Jahre zu ändern, dazu beigetragen, dass Türken nicht Deutsche geworden sind, dass sie nicht zu unserem Land gehören sollten, und jetzt verhalten sie sich eben so, wie sie sich verhalten sollten laut Wunsch der CDU/CSU, nämlich als Ausländer. Sie richten ihre Antennen nach Ankara, sie gehen davon aus, dass Herr Erdogan ihr Ministerpräsident ist und Frau Merkel nicht ihre Kanzlerin ist.
    Also wer sich über diesen Besuch ärgert und über das, was da möglicherweise wieder passieren wird, sollte die Integrationspolitik intensivieren, die Bildungspolitik intensivieren und vor allem das Staatsangehörigkeitsrecht liberal gestalten.
    Barenberg: Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner empfiehlt jetzt einen Boykott vonseiten der Menschen, die geplant haben, zu dieser Veranstaltung zu gehen. Liegt darin so etwas wie eine Chance, dass die, die sich vorgenommen haben, dort hinzugehen, dass Menschen aus der türkischen Gemeinschaft in Deutschland jetzt ein Zeichen setzen könnten?
    Özdemir: An wen richtet sich der Aufruf? Die, die gegen ihn sind, sind sowieso gegen ihn. Da wird niemand dazukommen durch den Aufruf von Frau Klöckner. Und die, die ihn vergöttern und seine Anhänger sind und im Prinzip auch nicht mehr wahrnehmen, was es an Kritik an ihm gibt, die werden seine Fans bleiben und jetzt erst recht wahrscheinlich hinpilgern. Insofern glaube ich, dass dem Aufruf nicht sehr viel in der Realität folgen wird. Herr Erdogan polarisiert, spaltet in der Türkei und wird dieses auch in der Bundesrepublik Deutschland tun unter den Menschen türkischer Herkunft. Er hat Fans, die ihn tatsächlich vergöttern, und er hat das absolute Gegenteil von Leuten, die ihn verdammen. In der Mitte gibt es nicht sehr viel.
    Barenberg: ...sagt der Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, heute Morgen hier live im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch.
    Özdemir: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.