China in hundert Tagen

22.02.2010
Der norwegische Autor Tor Farovik beschreibt in "Jangtse – Strom des Lebens" eine Reise, die ihn von Shanghai flussaufwärts den Jangtse führt. Er erlebt China zu Schiff, mit Bussen und auf dem Rücken von Lasttieren.
Am Drachenschwanz, einem Gletscher in Tibet, entspringt er, und Drachenmaul nennt man sein 40 Kilometer breites Mündungsdelta bei Shanghai: Der Jangtse ist nicht nur der größte Fluss Chinas, sondern mit einer Länge von 6378 Kilometern auch der längste Strom Asiens und nach dem Nil und dem Amazonas der drittlängste der Welt. Insgesamt leben etwa 400-500 Millionen Chinesen an seinem Ufer.

Der norwegische Journalist Tor Farovik kennt China seit über 35 Jahren. Er arbeitete lange in Shanghai, und im Jahr 2002 machte er sich von dort auf zu den Quellen des Jangtse. Auf Schiffen, kleinen Booten, per Bus und Auto, auf dem Rücken von Ponys und zu Fuß.

102 Tage war er unterwegs, vom 6. Mai bis zum 15. August 2002. Danach schrieb er sein wundervolles Buch, das leider erst jetzt auf Deutsch erscheint. Die Fahrt den Jangtse hinauf ist eine Reportage, die tief in den chinesischen Alltag und die chinesische Geschichte hineinführt.

Beispielsweise Shanghai: Hier besucht Farovik ein Lokal im Hafenviertel, eingerichtet in einem alten Lagerhaus – der passende Ort, um über den Aufstieg der Stadt zu berichten. Shanghai, das vor über 2000 Jahren gegründet wurde, wird im 19. Jahrhundert als Hafenstadt wichtig. Hier ankern Dschunken mit Tee, Gewürzen, Silber und Seide aus ganz China. England versucht als erste europäische Macht, sich Zugang zu diesen Reichtümern zu verschaffen. Zunächst liefern die Briten jahrzehntelang Opium gegen Silber, dann – als die Behörden 1839 eine Lieferung verbrennen – setzen sie die Stadt in Flammen. Das Empire erzwingt sich im Opiumkrieg einen Zugang ins Reich der Mitte. Shanghai wird internationaler Umschlagplatz für Waren aller Art und ist bis weit ins 20. Jahrhundert eine der verrufensten Städte im Osten. Hier ist alles erlaubt, alles käuflich.

1921 kommen 13 Männer in Shanghai zusammen, um das zu ändern: Sie gründen die Kommunistische Partei Chinas, die im Winter 1949 siegreich in die Hafenstadt einzieht. Shanghai verfällt in Agonie; diese dauert bis zum Beginn der 1990er-Jahre. Seither boomt es hier wieder und in diesem Jahr wird Shanghai die Weltausstellung beherbergen.

Farovik geht in Shanghai an Bord. Er schreibt über das Essen auf dem Schiff, gelangt so zu Tischsitten und Manieren. Es folgt eine Vermutung, warum die Chinesen weder eine systematische Botanik noch Zoologie hervorgebracht haben: weil hier kein Gelehrter einen Fisch betrachten kann, ohne darüber nachzudenken, wie der wohl schmecken wird. Er berichtet auch von den Millionen Menschen, die in den späten 1950er-Jahren verhungert sind, ausgelöst durch Maos "Großen Sprung nach vorn". Das wiederum wird mit der Geschichtsvergessenheit des Landes verknüpft. An anderen Stellen schreibt er über Selbstmorde, eine Misswahl in Yangzhou, die Nikotinsucht der Chinesen, deren Liebe zum Tee und über wundervolle Landschaften.

Farovik gelingt es hervorragend, Erlebnisse und Angelesenes zu verbinden. Angenehm uneitel ist auch sein Tonfall: Als er endlich auf 5500 Metern Höhe kurz vor dem Ziel ist, mit Blick auf die Berge, die Quelle des Jangtse und die Einsamkeit, da schreibt er: "Ich wäre jetzt gern philosophisch und würde gern ein paar tiefe Gedanken zu Papier bringen, aber vor allem brauche ich Sauerstoff, Essen und etwas zu trinken."


Besprochen von Günther Wessel

Tor Farovik, Jangtse – Strom des Lebens. Eine Reise von Shanghai ins tibetische Hochland.
Aus dem Norwegischen von Holger Wolandt und Lotta Rüegger .
Mit 16 Seiten Farbbildteil und einer Karte.
Malik Verlag München, 368 Seiten, 22,95 Euro