Die Null-Covid-Strategie in China

Shanghai im "Ruhemodus"

26:23 Minuten
Ein Verkehrspolizist in kompletter Schutzmontur steht inmitter einer nächtlich illumierten aber komplett leeren Straßenkreuzung.
Ein Verkehrspolizist in kompletter Schutzmontur: Seit Wochen ist Shanghai im Lockdown. © Getty Images / VCG
Von Eva Lamby-Schmitt  · 18.05.2022
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Die 25-Millionen-Metropole Shanghai ist im strikten Lockdown – seit Ende März. Die Menschen sind in ihren Häusern und Wohnungen eingesperrt, weil die chinesische Regierung weiter ihre strikte Null-Covid-Strategie verfolgt. Doch zu welchem Preis?
Es sind diese Szenen, die die chinesische Regierung in den Staatsmedien feiert. Unter Fahneneid kommen Zehntausende Helferinnen und Helfer aus verschiedenen Landesteilen nach Shanghai. Im Kampf gegen das Virus. Es ist die größte nationale Mobilisierungsaktion seit dem ersten Corona-Ausbruch seit Beginn der Pandemie vor zwei Jahren in Wuhan.
Dort wurden die Helfer damals als Helden gefeiert, ihnen wurde sogar ein Kinofilm gewidmet. Und auch Medaillen für die Helfer in Shanghai sind schon vorbereitet. Das Ziel: Null Neuinfektionen. Das hat für die Staats- und Parteiführung oberste Priorität.
Ende April. Aus den kleinen hell erleuchteten Fenstern der Hochhäuser in der Abenddämmerung in Shanghai schreien die Menschen. Sie machen Krach mit ihren Töpfen und Pfannen und schreien nach Essen. In der größten und modernsten Metropole Chinas.
Es sind außergewöhnliche Szenen in China, die in den Staatsmedien nicht gezeigt werden. Die kommunistische Regierung toleriert Proteste nicht. Es gibt keine Meinungs- und Pressefreiheit. Doch für manche Menschen geht es während des Lockdowns um Leben und Tod.
Mehr als 25 Millionen Menschen in der Finanz- und Hafenmetropole sind in ihren Häusern und Wohnungen eingesperrt – teils mit Zäunen und Barrikaden vor den Eingängen. Wohnungstüren sind teilweise versiegelt. Die Menschen dürfen auch nicht einkaufen gehen, es geht um existenzielle Bedürfnisse wie Essen und Trinken.
Ein Mann und ein Kind schauen am 2. Mai 2022 aus dem Fenster ihres Hauses während des Lockdowns in Shanghai.
Null Neuinfektionen sind das Ziel: Die Menschen in der Finanz- und Handelsmetropole sind in ihren Häusern und Wohnungen eingesperrt. © Getty Images / Future Publishing / CFOTO

Es fehlt an Essen, es fehlt an Getränken

In den vergangenen zehn Tagen haben wir fünf neue Fälle in unserem Gebäude gehabt. Wir dürfen die Wohnungen nicht verlassen und auch keine online Gruppeneinkäufe machen. Aber wenn wir nicht online bestellen können und auch keine Lebensmittelpakete kommen: Was sollen wir essen?

Eine Frau aus Shanghai

Das fragt eine Frau in einem Telefonat mit den zuständigen Behörden in ihrem Stadtviertel im Zentrum Shanghais. Die Aufzeichnung verbreitet sich in den sozialen Netzwerken.
Wie so viele Videos, die ähnliches zeigen. Und die von den Internetzensoren schnell wieder gelöscht werden: „Was soll ich essen, was soll ich trinken? Wo ist die Kommunistische Partei? Soll sie mich doch holen kommen. Wo ist der Kommunismus? Was ist mit den einfachen Leuten?“
Der Wut wächst über Wochen des Lockdowns. Die Geduld nimmt ab: Fünf Tage Lockdown waren angekündigt. Für viele sind es schon mehr als sieben Wochen. In einem Lockdown, den die meisten Menschen in Shanghai nicht erwartet haben. Dass er bald gelockert werden soll, das glauben viele nicht – zu vieles wurde bereits angekündigt und doch nicht eingehalten.

Das Vertrauen in die Regierung ist erschüttert

Rückblick: 26. März. Ein Tag vor Ankündigung des großen Lockdowns. In der täglichen Pressekonferenz der Stadt zur Corona-Lage heißt es: „Ein Lockdown. Das geht nicht. Warum nicht? Weil diese Stadt Shanghai zu wichtig ist für die chinesische Gesamtwirtschaft.“
Doch der Lockdown kam. Die hochansteckende Omikron-Variante des Coronavirus hat Shanghai überrollt. Und auch die Logistik, wie die Stadt später zugibt. Sie sei auf diesen Ausbruch nicht vorbereitet gewesen – mit in der Spitze fast 30.000 Neuinfektionen am Tag Mitte April.
Die ersten Wochen: Ein Chaos. Die Regierung will mehr als 25 Millionen Menschen mit Lebensmitteln versorgen. Doch es gibt zu wenige Lieferanten. Der Lockdown macht es für Lastwagenfahrer nahezu unmöglich, in die Stadt reinzufahren.
Freiwillige Helfer verteilen Lebensmittel an die Bewohner einer geschlossenen Wohnanlage während der stufenweisen Abriegelung aufgrund des COVID-19-Ausbruchs am 4. Mai 2022 in Shanghai.
Schwierige Versorgunglage in Shanghai: Freiwillige verteilen Lebensmittel an die Bewohner einer geschlossenen Wohnanlage. © Getty Images / VCG / Yang Jianzheng

Corona-Tests statt Hilfe

Auch in der Stadt selbst fehlen zunächst die Helfer. Das medizinische Personal der Krankenhäuser ist nahezu komplett in die Massentests eingebunden. Notfallambulanzen sind weitgehend geschlossen, Hilfe-Hotlines sind überlastet, die Menschen fühlen sich nicht informiert.
„Die Regierung in Shanghai hat keinen Plan und macht jeden Tag etwas anderes. Sie hat sich noch nie um das Wohlergehen der Anwohner gekümmert. Wir dürfen unsere Wohnungen nicht verlassen, aber die Vorräte in unserem Kühlschrank werden von Tag zu Tag weniger“, erzählt eine Frau aus dem Osten Shanghais.
„Wir rufen die Hotline-Nummer an, die sie uns gegeben haben, aber die ist immer besetzt. Meine Eltern brauchen Medikamente, aber die Leute von der Regierung haben uns einfach gesagt, dass sie nicht helfen können.“
Um unsere Gesprächspartner bei regierungskritischen Aussagen zu schützen, nennen wir ihre Namen nicht.
„Vor zwei Tagen haben sie einen Kohlkopf, zwei Kartoffeln, einen Spinat und einen Ingwer geliefert. Das ist alles“, berichtet sie. Anderen, mit denen wir sprechen, geht es ähnlich. Manche berichten von bereits verrotteten Lebensmitteln.
„Nach dem anfänglichen Schock haben wir Bewohner begonnen, uns selbst zu organisieren, denn die Regierung hat uns weder psychologisch noch materiell unterstützt. Das Einzige, was sie tun, sind Corona-Tests.“

Psychische Folgen für die junge Generation

Die Kanadierin Racelle lebt mit ihrer fünfköpfigen Familie in Shanghai. Während sie den ganzen Tag beschäftigt ist, Lebensmittel ranzuschaffen, sitzt ihr Mann in Online-Meetings. Ihr Sohn hat Homeschooling und die Kleinsten toben durch die Wohnung. Mit größeren und kleineren Krisen. Doch anderen macht der Lockdown noch mehr zu schaffen.
„Eine Teenagerin bei uns die Straße runter hat sich umgebracht, ist einfach aus dem Fenster gesprungen. Und auch im Gebäude gegenüber von uns hat sich letzte Woche ein Mann das Leben genommen“, sagt sie.
Während des Lockdowns in Shanghai sind zudem Menschen gestorben, weil sie nicht medizinisch behandelt wurden. So sind Fälle von zum Beispiel Asthma-Kranken, Dialyse- und Krebspatienten bekannt.
Das hat in der Bevölkerung für sehr viel Unmut gesorgt: „Es ist eine sehr schlimme und extreme Situation. Menschen, die regelmäßig medizinische Versorgung brauchen, können diese während des Lockdowns nicht bekommen.“

Versorgungsmangel auf allen Ebenen

Die Behörden standen unter Druck, Mitte April haben sie beschlossen, Notfallambulanzen wieder zu öffnen. Doch nicht immer durften die Menschen zum Arzt. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisiert den erschwerten Zugang zu Lebensmitteln und medizinischer Versorgung scharf.
„Die Regierung kann nicht einfach tun, was sie will. Wenn sie einen Lockdown verhängt, muss sie gewährleisten, dass Menschen immer noch Lebensmittel, Trinkwasser, Medizin und medizinische Behandlung für andere Krankheiten als Covid-19 erhalten“, sagt Sophie Richardson. Sie ist bei Human Rights Watch für China zuständig.
„Eine andere Sache ist der begrenzte Zugang zu Information. Erstens: Was Menschen in China wissen können darüber, was die Regierung gerade macht. Und zweitens: Was sie sagt, im Gegensatz dazu, was tatsächlich passiert.“
Luftaufnahme der leeren Nanpu-Brücke am 28. März 2022 in Shanghai, China.
Luftaufnahme der leeren Nanpu-Brücke in Shanghai: Der wochenlange Lockdown ist ein Rückschlag für die Kommunistische Partei, meint der Sinologe Björn Alpermann.© Getty Images / VCG

Misstrauen gegenüber den Behörden

Zum Beispiel, dass Mitte April bereits Lockerungen angekündigt, aber nur teilweise umgesetzt oder wieder rückgängig gemacht wurden. Oder dass die Behörden den Menschen nicht genau mitteilen, wohin sie genau gebracht werden, wenn sie ein positives Testergebnis bekommen, und wie lange sie in den staatlichen zentralen Isolationszentren bleiben müssen.
Das Licht brennt 24 Stunden am Tag, die Betten stehen dicht an dicht, Hunderte positiv getestete Menschen zusammen in einer großen Halle. Claudio ist Italiener, lebt und arbeitet in Shanghai und ist hier gelandet.
Er sei vielleicht positiv, haben die Behörden ihm gesagt. Dann haben ihn Menschen in weißen Schutzanzügen von zu Hause abgeholt.

Sie sagten, es ginge ins Krankenhaus. Aber dann war es kein Krankenhaus. Es war diese Isolationseinrichtung, irgendwo im Osten Shanghais. 50 Kilometer weit weg von meinem Zuhause. Sie haben mir am Anfang nicht mal den Zielort mitgeteilt. Ich habe Leute gesehen, die sich im Bus übergeben haben, direkt neben mir. Sie haben richtig krank ausgesehen.

Claudio

Er filmt von seinem Bett aus. Er zeigt uns Betten mit blauen, dünnen Decken, seine Bettnachbarn direkt neben ihm, dann graue Trennwände direkt vor ihm bevor die nächste Reihe mit Betten beginnt. 
„Es gab keine Hilfe. Ich hatte ein paar Probleme mit meinen Augen. Sie hatten noch nicht einmal Medikamente dafür“, erzählt er.

Die Angst vor den Isolationszentren

Dass es vor Ort kaum medizinische Versorgung gibt, berichten mehrere Betroffene. Jeder, der in China mit dem Coronavirus infiziert ist, muss in solch eine zentrale Isolationseinrichtung. In Shanghai wurden zu Beginn des Lockdowns Sportstadien und Messehallen umfunktioniert.
Später als jeden Tag zwischen 20- und 30.000 neue Fälle hinzukamen und die Kapazitäten nicht mehr ausreichten, wurden leere Gebäude genutzt oder neue Einrichtungen gebaut. Teilweise sollen die Zentren noch Baustellen gewesen sein, als Betroffene dort auf Feldbetten und Holzpritschen untergebracht wurden. Claudio hat überhaupt kein Verständnis für die Maßnahmen der Behörden.
„Ich war sicher zu Hause, ich bin alleine zu Hause geblieben und nicht rausgegangen. Aber nein, sie mussten mich hierherbringen. An einen Ort, der voll mit kranken Menschen ist. Unter sehr schlechten Bedingungen“, kritisiert er.
Bedingungen, die viele Menschen in Shanghai fürchten. Es gibt mehrere Berichte von Menschen, die sich dagegen gewehrt haben, in solche Einrichtungen gebracht zu werden. Videos davon in den chinesischen sozialen Netzwerken sind schwer zu verifizieren, spiegeln jedoch die Stimmung der Menschen wider:
„Jeden Tag sehen wir auf Apps wie Wechat und Douyin viele Videos und Beiträge über Zusammenstöße zwischen Menschen und den Ordnungskräften. Wir sehen, wie Polizisten Gewalt anwenden oder Menschen unterdrücken, die sich beschweren und Widerstand leisten. Wir sind wütend, aber wir können nichts tun. Schließlich trauen sich die meisten Chinesen nicht, gegen die Regierung zu kämpfen.“

Internetzensoren löschen die Kritik

Der wochenlange Lockdown und der damit einhergehende Unmut könnten durchaus gefährlich werden für die Kommunistische Partei, wenn auch nicht im revolutionären Sinne, meint Björn Alpermann, China Wissenschaftler und Professor an der Universität Würzburg.
Es sei ein Rückschlag für die Kommunistische Partei, den sie sich ausgerechnet in diesem Jahr nicht leisten wollte. Denn der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping strebt in diesem Jahr eine weitere Amtszeit an.

Im Moment droht sich tatsächlich das Blatt zu wenden. Wenn es der Zentralregierung nicht mehr gelingt, das Versagen in der Pandemiebekämpfung jeweils auf die lokale Ebene abzulenken, dann kann es auch für die Führung Xi Jinpings in gewisser Weise gefährlich werden. Denn gerade die Kommunistische Partei hat sich eigentlich dazu hinreißen lassen, ihr vergleichsweise gutes Abschneiden in diesem Corona-Vergleich als eine systemische Frage zu deuten und damit politisch aufzuladen.

Das heißt, es wurde gesagt: Wir unter der kommunistischen Führung der Partei haben es in China besser hingekriegt als die demokratischen Staaten des Westens, die viel zu zögerlich vorgegangen sind. Und das droht jetzt tatsächlich der chinesischen Regierung in gewisser Weise auf die Füße zu fallen.

Björn Alpermann

Vor allem in den sozialen Netzwerken versuchen die Menschen in Shanghai ihren Unmut auszudrücken. Doch vieles Kritische wird von den Internetzensoren schnell wieder gelöscht. Ein besonderes Phänomen war das Video mit dem Titel „Die Stimmen des Aprils“ – ein Zusammenschnitt von Telefonaten, Eindrücken und aufgezeichneten Gesprächen aus dem Lockdown-Monat April.
Dieses Video wurde an einem Tag innerhalb weniger Stunden immer wieder sehr hartnäckig geteilt. Ein Wettlauf gegen die Internetzensoren, die es immer wieder gelöscht haben. Bis es am Ende nicht mehr zu sehen war.

Ein Zurück zur "Normalität" ist unwahrscheinlich

„Normalerweise ist Zensur etwas, was die chinesischen Bürger und Netizens nur am Rande mitbekommen und was in der Regel nur eine ganz kleine Minderheit betrifft. Aber jetzt haben wir es mit einer Situation zu tun, in der 25 Millionen Shanghaier Bürger sich vielfach lautstark online in den sozialen Medien und in anderen Foren darüber beschweren, wie schlecht die Versorgungslage ist“, erzählt Björn Alpermann.
„Sie müssen leider vor ihren Augen erleben, wie all diese Beschwerden, auch kreative Formen des Protestes, wieder gelöscht werden. Das heißt, es ist eine ganz neue Erfahrung für diese Netizens, dass sie jetzt selber Opfer von Zensur werden in einem bisher von ihnen sicherlich so nicht gekannten Ausmaß.“
Ein Ausmaß der Zensur, das sich für manche Shanghaier unbezwingbar anfühlt – wie dieser Mann erzählt: „Wenn die Behörden rücksichtslose Maßnahmen ergreifen, sind die Menschen einfach zu machtlos, um etwas dagegen zu unternehmen. Es gibt keinen Kanal, wo man seinen Unmut loswerden kann. Ich bin pessimistisch, was die Situation angeht.“
Menschen mit Abstand in einer Schlange, um auf einem temporären Gemüsemarkt einzukaufen. Darüber fliegt eine Drohne.
Eine Drohne über einer Schlange Wartender: Nach diesem Corona-Ausbruch werde es eine Vertrauenskrise geben, meint ein Mann aus Shanghai.© Getty Images / China News Service / Yin Liqin
Viele Menschen sind enttäuscht. Sie sagen, dass sie das, was während des Lockdowns passiert ist, nicht vergessen werden und der Regierung nicht vergeben können.

Nach diesem Corona-Ausbruch wird es eine große Veränderung geben, nämlich eine Vertrauenskrise. Das Vertrauen in Shanghai wird wieder aufgebaut werden müssen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Dinge wieder so werden, wie sie waren.

Ein Mann aus Shanghai

Falls die Mehrheit in der mehr als 25-Millionen-Metropole Shanghai so denkt, dann geht der deutsche Sinologe Björn Alpermann davon aus, dass es für die Zentralregierung in Peking schwierig wird, diesen Vertrauensverlust, diese Niederlage in einen Sieg gegen die Pandemie umzudeuten.
Selbst der Einsatz modernster Propaganda wäre womöglich nicht dazu in der Lage. Auch nicht die heldenhaften Medaillen als Auszeichnung im Kampf gegen das Virus.
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