Freitag, 29. März 2024

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500 Jahre Ghetto
Durch das venezianische Cannaregio

Das Wort Ghetto ist heute größtenteils aufgrund der geschichtlichen Ereignisse negativ besetzt, und das wird sicher noch lange so bleiben. Trotzdem, es ist der Mühe wert, sich auf die Suche nach dem Ursprung dieses Wortes zu begeben. Die Spur führt uns nach Venedig, genauer gesagt, in das Ghetto di Venezia.

Von Rita und Rudi Schneider | 24.01.2016
    Campo di Ghetto
    Campo di Ghetto im jüdischen Viertel von Venedig. (Rudi und Rita Schneider)
    Sonnenstrahlen spiegeln sich auf der Wasseroberfläche eines der unzähligen Kanäle in Venedig. Während die Bugwelle quirlige Lichtmuster an die Wand eines der alten Patriziergebäude spiegelt, reflektiert die Musik des Gondoliere, an den engen Wänden der Wassergasse.
    Die Geräuschewelt in Venedig ist ungewohnt für unsere Ohren, da die Autos fehlen. Ohne es bewusst zu wollen, nehmen wir viele Laute wahr, die uns sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wären. Während die Gondel mit ihrer Musik davon gleitet, dringt eine andere Musik an unsere Ohren und macht uns neugierig.
    Das sind offensichtliche Kinderstimmen, die aus einem offenen Fenster einer Sonntagsschule wie ein laues Frühlingslüftchen wehen und das bekannte "Shalom alechem" singen.
    Shalom alechem, der hebräische Friedensgruß ist eine wunderbare Einladung zu einem Spaziergang im jüdischen Viertel von Venedig. Über eine Brücke, die den kleinen Kanal Rio del Ghetto überquert, gelangen wir auf den Campo del Ghetto Nuovo. Barbara Del Mercator erwartet uns auf der anderen Seite der Brücke und führt uns quasi in einem Zeitsprung 500 Jahre in die Vergangenheit.
    "Am 29. März 1516 erließ Leonardo Loredan, der zu dieser Zeit der Doge von Venedig war, ein Dekret, das einen Bereich der Stadt als alleinigen Wohnbereich der Juden definierte. Das war das erste Mal in der Welt, dass Juden das Recht hatten, aber auch gezwungen waren, in einem eingegrenzten Teil einer Stadt, die in diesem Fall durch drei Tore abgeschlossen war, zu leben. Das war das erste Ghetto der Welt."
    Barbara ist die Organisatorin der bevorstehenden Gedenkfeierlichkeiten. Der Name "Ghetto" so erzählt sie, ist hier in Venedig entstanden und von dem italienischen Ausdruck "Geto" für "Gießerei" abgeleitet. Ursprünglich war dieser Bereich das Viertel der ungeliebten Eisengießer von Venedig. Paolo Navarro Dino von der Comunita Ebraica gesellt sich zu uns und weiß mehr über die drei Tore, die ins Ghetto führen.
    "Der Campo di Ghetto wurde nachts mit Toren abgeschlossen, die bewacht waren. Es war unmöglich, ohne Erlaubnis rein oder raus zu gehen. Es gibt allerdings etliche Dokumente, die belegen, dass es trotz der Wachen doch eine Reihe von Möglichkeiten gab, auf trickreichen Wegen das Ghetto zu verlassen oder auch hineinzukommen."
    Die fünf Synagogen stammen alle aus dem 16. Jahrhundert
    Die Tore, die die Juden zwangen, innerhalb des Ghettos zu leben, wurden von Napoleon 1797 abgerissen. Viele der wohlhabenden jüdischen Familien zogen danach in andere Stadtbereiche in Herrenhäuser und Palazzi um. Diese Familien waren als Kaufleute, Ärzte oder Kunsthändler und zum Teil bedeutende Mitglieder der venezianischen Gesellschaft.
    Die Häuser des ursprünglichen Ghettos gruppieren sich wie in einem Gemälde um den geräumigen Marktplatz, den Campo di Ghetto Nuovo, in dessen Mitte ein Brunnen ruhig vor sich hin plätschert. "Der Campo di Ghetto Nuovo ist der älteste Teil des Ghettos und damit das Herz des Ghettos, hier befinden sich auch die ältesten Synagogen. Die Höhe der Gebäude ist auffällig. Da der verfügbare Raum innerhalb des Ghettos gering war, baute man mehrgeschossig, und zwar auffällig mehr Geschosse als in anderen Teilen der Stadt."
    Um den Brunnen spenden einige Bäume willkommenen Schatten. Kleine Geschäfte mit hebräischen Lettern an der Tür und ein kleines Bistro mit einer gemütlichen Sitzgruppe laden zu Verweilen ein. "Rund um diesen Platz gruppiert sich alles, was für jüdisches Leben wichtig ist", sagt Paolo. "In diesem Bereich sind die drei wichtigsten Synagogen. Die größte ist die Schola Tedesca, die deutsche Synagoge mit askenasischem Ritus. Diese Synagoge dort drüben ist die Canton Schola. Der Name könnte damit zusammenhängen, weil sie sich an der Ecke des Campo di Ghetto befindet. Das venezianische Wort für Ecke lautet Canton."
    Ghetto Venezia Synagoge
    Ghetto Venezia Synagoge (Rudi und Rita Schneider)
    In der deutschen Synagoge fügt sich die ovale umlaufende Galerie der Frauen harmonisch in das Gesamtbild des Raumes. Die goldenen Lettern der zehn Gebote umlaufen den gesamten Raum auf rotem Grund. Die fünf Synagogen des Ghetto stammen allesamt aus dem 16. Jahrhundert und zeigen eine bemerkenswerte und kunstvolle Innenarchitektur verschiedener Stilrichtungen. "Wenn man genau hin schaut, fällt auf, dass die Synagogen nicht mehrgeschossig erbaut wurden. Die Decke des Versammlungsraumes schaut praktisch in den Himmel."
    Neben dem Himmlischen findet sich auch das Weltliche am Campo di Ghetto Nuovo. "Unter diesen Arkaden, die Sie hier vorne sehen, befindet sich die Banco Rosso, die rote Bank. Diese Bank hat die ganzen Entwicklungen im Ghetto bis heute überlebt und beherbergt heute auch ein kleines Museum. Ursprünglich waren es mal drei Banken. Sie waren nach Farben benannt: die rote, die grüne und die weiße Bank."
    Talmud- und Toraschule ist Mittelpunkt des jüdischen Lebens
    Die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Venedig hatte während der vergangenen fünf Jahrhunderte schöne, facettenreiche, aber auch schwere Zeiten. Während des Faschismus wurden ab 1943 die meisten dort lebenden Bewohner von den deutschen Besetzern deportiert und ermordet. Ein Relief des litauischen Bildhauers Arbit Blatas erinnert an die Shoah. Spuren und Dokumente aus den Jahrhunderten finden sich Museo Ebraico erzählt Barbara und ergänzt: "Neben dem Museum befindet sich eine kleine aber interessante Bücherei mit dem Namen: Biblioteca Renato Maestro. Sie beinhaltet mehr als zehntausend Werke in italienischer, englischer, französischer, deutscher und hebräischer Sprache. Darüber hinaus dokumentiert ein umfangreiches historisches Archiv Leben und Gebräuche der jüdischen Bevölkerung von Venedig."
    Manches kunstvolle aus den vergangenen Zeiten findet sich auch in Elisabetta Orlandis Antiquitäten Laden, der zum Stöbern einlädt. "Das hier ist eine Menorah, die von einem Glaskünstler in Murano gefertigt wurde. In dieser Vitrine haben wir einige Dekorationsobjekte in Silber und Jade, die zum Sukkot Fest verwendet wurden. Hier vorne finden Sie einige interessante jüdische Bücher aus dem 18. Jahrhundert. Dieser Kiddusch Kelch in Silber stammt aus Kiew. Das hier ist eine wunderschöne filigrane Mezuzah. Das sind alles Judaika, die aus dem jüdischen Leben in Venedig stammen."
    Jüdisches Leben heute, das konzentriert sich in der Talmud- und Toraschule, deren alte Eichentür sich unweit von Elisabettas Laden befindet. Dort finden die meisten sozialen Aktivitäten der Gemeinde statt.
    In der geräumigen Eingangshalle mit dem direkten Durchgang zum Innenhof mit einer kleinen Wiese und schattigen Bäumen wartet Rabbi Shalom Bahbout auf uns, der gerade von einer Kinderschar umringt wird. "Wir haben auch einen Kindergarten an zwei Tage in der Woche. In unserer Sonntagsschule gibt es Aktivitäten für alle Altersgruppen. Die Eltern kommen mit ihren Kindern und finden hier alles, was jüdisches Leben bedeutet. Studium der Schriften, Musik, Tanz, Kunst und auch Spiele. Ich selbst gebe immer Dienstags Unterrichtsstunden über Texte der Midrash und der Torah."
    Die Welt ist eingeladen mitzufeiern
    Die jüdische Gemeinde in Venedig hat zur Zeit ca. 450 Mitglieder, erzählt Rabbi Bahbout und wandert mit uns ein wenig durch die Räumlichkeiten. Die Glocke ruft die Kinder zur Sonntagsschule und wir dürfen der Unterrichtsstunde ein wenig lauschen.
    Während die Kleinen lernen, wer Abraham und Sarah, oder Leah und Rebecca waren und welche Rolle sie in der jüdischen Geschichte spielten, erzählt uns Rabbi Bahbout, was der zentrale Punkt im Gemeindeleben ist und sicher immer bleiben wird. "Am Freitagabend beginnen wir mit dem Kabbalat Shabbat, das ist die Eröffnungszeremonie des Shabbat. Dazu kommen nicht nur unsere venezianischen Gemeindemitglieder, sondern auch Besucher und Touristen. Ich gebe Thorah-Stunden in der Synagoge und wir nutzen immer gerne die Gelegenheit zum persönlichen Gespräch über alles, was das tägliche Leben mit sich bringt. Am Samstagnachmittag gibt es dann noch Gebete in der Synagoge. Der Shabbat ist für uns ein wichtiger Tag."
    Wenn Rabbi Bahbout seine Stimme in der Synagoge erhebt, ist das immer eine Feierstunde, sagen die Gemeindemitglieder. Nun steht das fünfhundertjährige Jubiläum des Ghettos von Venedig vor der Tür, aber das Wort "Feiern" hat für den Rabbi zweierlei Bedeutung. "Die Juden in einem Ghetto einzuschließen, ist eigentlich kein Grund zu feiern. Nach 500 Jahren wollen wir reflektieren, was es bedeutete... und wir wollen auch nach vorne schauen. Wir beginnen jetzt die nächsten 500 Jahre."
    Es klingt fast, als würde die Glocke der Sonntagsschule die nächsten 500 Jahre einläuten. Tatsächlich ruft sie nochmals die Jugend, also die Zukunft der Gemeinde, diesmal zu einem bekannten Lied, das uns zu Beginn unseres Besuches in der Comunita Ebraica di Venezia begrüßt hat.
    "Wir laden alle Leute aus der ganzen Welt ein, uns im Ghetto in Venedig zu besuchen. Die Synagogen im Ghetto sind mit die schönsten in der Welt. Viele Paare lieben es, in unseren Synagogen zu heiraten, weil sie wirklich ein ganz besonderer Ort sind. Wir freuen uns auf Besucher aus ganz Europa und Amerika und laden Sie herzlich ein, an unseren Veranstaltungen zur Erinnerung an 500 Ghetto in Venedig teilzunehmen."