China aus der Innenansicht

Detlev Claussen im Gespräch mit Dieter Kassel · 30.09.2009
Für sein Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" sprach der Autor Liao Yiwu mit 300 Menschen, die in China am Rande der Gesellschaft stehen. "Das ist ein ganz großes Kunstwerk, und es hat gleichzeitig den Anspruch, die Wahrheit über das China von heute zu sagen", sagt der Soziologe Detlev Claussen.
Dieter Kassel: Erst gestern berichtete die "Süddeutsche Zeitung" darüber, dass der chinesische Autor Liao Yiwu in seiner Heimat neuen Repressalien ausgesetzt ist, seit im Westen so viel über ihn geredet wird. Er wurde wieder von der Staatssicherheit in seiner Heimatprovinz Sichuan einbestellt, und unter anderem wurde ihm mitgeteilt, er dürfe ab sofort nicht mehr mit ausländischen Journalisten sprechen. Liao hat darauf angeblich mit der gelassenen Bemerkung reagiert, dieser Aufforderung könne er als Autor und Journalist nicht nachkommen.

Liao hat sich immer wieder mehr oder weniger freiwillig mit den Behörden in China angelegt. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 hat er ein Gedicht mit dem Titel "Massaker" verfasst, hat dieses Gedicht auf Audiokassetten gesprochen und so für eine gewisse Verbreitung des selbstverständlich offiziell nicht druckbaren Textes in China geführt. Er hat insgesamt in den letzten na ungefähr 20 Jahren rund 300 Gespräche mit Menschen, die – man sagt es so leicht – der chinesischen Unterschicht angehören, geführt. Das ist vielleicht ein irreführender Begriff. Er hat mit 300 Menschen gesprochen, die – das kann man sagen – nicht zu diesem gesellschaftlichen Mainstream gehören, auf den die kommunistische Partei in Peking so stolz ist und den sie international recht gerne vorzeigt.

Natürlich dürfen auch diese Gespräche nicht in der Volksrepublik offiziell gedruckt werden, sie sind in Taiwan erschienen, einige davon sind in französischer und englischer Sprache verfügbar gewesen. Und es gibt jetzt seit Neuestem eine deutsche Ausgabe von knapp 30 Protokollen dieser Gespräche. Die Ausgabe ist rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse erschienen unter dem Titel "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser", und das Nachwort zu dieser deutschen Ausgabe einige dieser Gespräche hat der Hannoveraner Soziologe Detlev Claussen geschrieben. Der ist jetzt bei uns im Studio. Schönen guten Tag noch mal, Herr Claussen!

Detlev Claussen: Guten Tag!

Kassel: Warum? Wie sind Sie dazu gekommen, wie haben Sie Liao und sein Werk überhaupt entdeckt?

Claussen: Ja, ich bin in den letzten 15 Jahren sieben Mal in China gewesen und habe jetzt ein verschärftes Interesse an China. Und der deutsche Markt ist in gewisser Weise relativ begrenzt. Und so habe ich bei einer Reise in Washington D.C. bin ich durch einen Buchladen gestreift, Kramers Bookshop, und da habe ich das Buch gefunden. Es hatte den merkwürdigen Titel, hieß "The Corpse Walker". Und es ist ja auch eine Geschichte darin, nämlich da wird von Menschen, die ihr Geld damit verdienen, Leichen zu transportieren, an den Behörden vorbei – und das hat mich irgendwie gereizt. Und da habe ich das Buch im Flugzeug gelesen und habe dann sofort im Fischer-Verlag angerufen und dem Lektor gesagt: Hier dieses Buch, das müsst ihr unbedingt machen, das ist ein ganz großartiges Werk. Und da sagte er: Herr Claussen, das liegt bei mir auf dem Schreibtisch, und wir machen das. Da habe ich gesagt: Dann möchte ich unbedingt ein Nachwort dazu schreiben, um einem deutschen Publikum das vorzuführen, was ist das eigentlich für ein Buch. Und ich finde, dieses Buch ist eben so besonders, weil es die Grenze zwischen Sachbuch und Literatur einfach aufhebt. Das ist ein ganz großes Kunstwerk, und es hat gleichzeitig den Anspruch, eben die Wahrheit über das China von heute zu sagen.

Kassel: Wie hat denn Liao diese Gespräche geführt, um das hinzukriegen, was Sie gerade sagen – Sachbuch und Literatur zugleich?

Claussen: Ja, das ist also auch eine ganz großartige Fähigkeit, die er hat. Er hat offensichtlich eine Fähigkeit, Kontakt zu den unterschiedlichsten Menschen aufzunehmen – zu hoch gebildeten Leuten, weil er ist selber hoch gebildet. durch seine aber Gefängniserfahrung – er war von 1990 bis 1994 im Gefängnis gesessen und wirklich, er war vom Tode bedroht –, da hat er unglaublich viele Leute kennengelernt, ganz unterschiedlichster Ausprägung, die eben dieses ganze Spektrum eben von Fräulein Hallo bis zum Bauernkaiser abbilden. Und er hat es offensichtlich gelernt, mit diesen Menschen Kontakt aufzunehmen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Und er redet auch mit Menschen, die ihm total unsympathisch sind. Zum Beispiel kommt da ein Menschenhändler drin vor, ein wirklich ganz schlimmer Finger, und trotzdem bringt er den auch zum Sprechen. Und er hat eine Form, ich würde das auch gar nicht Interviews nennen, das sind Gespräche und ist eine Gesprächskultur, also sozusagen eine literarische Form, so wie Flüchtlingsgespräche bei Brecht. Es sind Gespräche, aber es sind keine Fiktionen, sondern es sind reale Gespräche.

Und so kriegen wir plötzlich einen Eindruck von chinesischen Menschen, so wie wir sie gar nicht kennen. Wir kennen immer sozusagen die Fassade des chinesischen Menschen, nämlich die Leute, die sprechen dürfen, die im Ausland … die erwünscht sind, oder wir kriegen eben auch Dissidenten. Aber das sind natürlich ganz hervorgehobene Menschen. Und das ist hier auch etwas, was in China Furore gemacht hat, nämlich hier tauchen Menschen auf, das sind keine Prominenten, das sind keine Stars oder sonst irgendwas, sondern sie sind Alltagsmenschen. Und dieser Alltag, der so anders ist als das offizielle chinesische Weltbild und auch das westliche Bild, das wir uns von China machen, beides wird eigentlich im Grunde genommen durch dieses Buch unterlaufen. Und das präsentiert er und das ist auch die Sprengkraft dieses Buches.

Kassel: Das heißt, das ist mir auch aufgefallen beim Lesen dieser Gespräche – das heißt, es ist kein direkter Angriff auf die Politik, es ist kein Buch im Sinne, wie man sich das naiv vorstellen mag, gegen die kommunistische Partei in Peking, sondern es ist einfach ein Buch, das Menschen porträtiert durch die Gespräche, die eben nicht passen ins offizielle Bild?

Claussen: Ja, und es zeigt – und darin besteht eigentlich die indirekte Kritik, und die ist vernichtend –, die indirekte Kritik ist, dass die chinesische kommunistische Partei mit dem realen Leben überhaupt nichts zu tun hat, sondern nur in das reale Leben eingreift, in fürchterlicher Repression. Und das ist also, da sind grausame Geschichten. Der Konterrevolutionär, das ist ein wunderbarer Mensch, dieser Konterrevolutionär, und er wird zum Konterrevolutionär wider Willen, durch die Praxis der Partei, durch die gnadenlose Verfolgung der Wahrheit, weil er macht nichts anderes. Dieser Konterrevolutionär hat aus dem Hotelfenster … war er am 4. Juni damals vor 20 Jahren in Peking, hat aus dem Fenster geschaut, und das, was er da gesehen hat, das konnte er nicht für sich behalten und hat dann auf private Weise die Wahrheit über das Tiananmen-Massaker verbreitet. Und daraufhin hat ihn die Partei gnadenlos verfolgt, ins Gefängnis geworfen.

Und dann kommt ja immer dieses, das, was da dranhängt in China, nämlich sozusagen, dass die ganze Familie da reingezogen wird. Sein Vater, ein alter verdienter Revolutionär, der wurde dann ins Gefängnis gebracht, um Druck auf den Sohn auszuüben, er sollte jetzt eine Selbstbeschuldigung unterschreiben. Hat er aber nicht gemacht. Daraufhin hat der Vater den Sohn verstoßen. Also eine ganz schreckliche Geschichte. Und vor lauter Aufregung bekommt der Vater dann einen Herzinfarkt im Gefängnis. Also das ist so eine typische Geschichte von ganz vielen. Manche sind gar nicht explizit politisch, sondern manche sind so implizit, nämlich zum Beispiel, dass überhaupt die Hungersnot von 59 bis 62, dass die überhaupt thematisiert wird. Und aus dieser Hungersnot, die ja Schuld der Partei war, das war die Folge einer ganz grässlichen und dusseligen Kampagne volontaristischster Art. Und das weiß auch jeder, dass die Partei daran schuld gewesen ist.

Kassel: Der berühmte große Schritt nach vorn, wie es genannt wird.

Claussen: Ja, genau, das war eine Folge davon, der völlig misslang, dieser große Schritt nach vorn. Und das ist auch sehr interessant: Auf der einen Seite wird ein Arbeitsgruppenleiter gezeigt, der nicht, der das weiß, dass er sozusagen sich selber da auch vergangen hat, aber das sind keine individuellen Fehler, sondern diese Kombination eigentlich, von individueller Schuld – und auch das ist großartig – und dem, wie die Zeitläufe gewesen sind. Und das wird reflektiert. Insofern ist es auch ein großartiges Erinnerungsbuch. Es wird erinnert, es wird zum ersten Mal überhaupt die chinesische Geschichte erinnert, und zwar nicht in offiziellen Parteidokumenten, sondern erinnert, wie die Menschen sie erinnern, wie die Menschen Geschichte erfahren haben. Und dadurch haben wir die Chance, die Geschichte, die chinesische Geschichte auch zu erfahren, wie die Chinesen sie erfahren haben.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem deutschen Soziologen Detlev Claussen über die Arbeiten von Liao Yiwu, dem chinesischen Schriftsteller, der insgesamt rund 300 Gespräche geführt hat. Und Sie haben ja schon gesagt, die meisten davon, oder sagen wir einige, die meisten ist vielleicht übertrieben, sind auf den ersten Blick nicht sehr politisch. Nehmen wir die Geschichte von Fräulein Hallo, auch weil sie etwas irritierend – jedes Land hat sich eine andere Überschrift ausgedacht für seine jeweilige Ausgabe dieser Bücher – in Deutschland ja die Überschrift bildet. Wer ist Fräulein Hallo und was für ein Gespräch hat Liao mit ihr geführt?

Claussen: Ja, und das ist auch … Dieses Gespräch, ich find das richtig süß, dieses Gespräch. Er ist eben jemand, der diese ganze Gefängniserfahrung hinter sich hat, der kennt wirklich die Gesellschaft von unten, seitdem er eben verfolgt wird, die Partei lässt ihn überhaupt nicht mehr hochkommen. Er lebt wirklich am Rande der Gesellschaft, und ab und zu macht er mal eine Veranstaltung …

Kassel: Musik macht er auch.

Claussen: Ja, genau, macht solche Veranstaltungen, wo Literatur, Gedichte, bisschen Musik, wir würden sagen, Straßenmusikant ist er in gewisser Weise. Und danach wird gesammelt und dann hat man irgendwie ein paar Hundert Yuan, und davon muss man dann irgendwie leben. Der schlägt sich eben so durch. Und der möchte sich auch mal amüsieren, und so ist er in so eine Karaokekneipe gegangen, und da arbeitet eben dieses Fräulein Hallo. Ganz andere Generation. Er ist jetzt 50 Jahre alt, sozusagen die entscheidende politische Erfahrung seines Lebens war eben das Tiananmen-Massaker, das ist jetzt auch 20 Jahre her. Die ist aber irgendwie danach groß geworden. Und in China nennen sie diese die Fernsehkinder, das heißt also, die die Welt schon durch das Fernsehen vermittelt bekommen haben. Das ist eine neue Generation, die überhaupt erst in den 90er-Jahren groß geworden ist. Und die trifft er da in der Kneipe, in dieser Karaokekneipe. Über ganz China verbreitet gibt's so was, und da amüsiert man sich. Und das ist immer so am Rande, sozusagen am Rande, das ist so halbseiden.

Auf der einen Seite müssen Sie auch immer bedenken, China hat eine riesige – das kam nicht erst durch den Kommunismus, das hängt eher mit dem Konfuzianismus zusammen – eine Riesentradition von Prüderie. Und diese außereheliche Aufnahme von überhaupt intergeschlechtlichen Beziehungen, das ist schon irgendwie, heizt die Chinesen schon irgendwie an, das hat immer irgendwie einen erotischen Reiz. Und das schildert er nun eigentlich, wie er jetzt nun als Älterer, wie er da Kontakt mit der jungen Frau aufnimmt, und versucht irgendwie, sozusagen auch ihr Interesse zu erwecken. Und dann kommt sie irgendwie auf ihn zu und sagt dann irgendwie: Ja, ich find solche Leute, so Typen wie dich, die finde ich ganz interessant, die die großen Examen haben. Und da fragt er: Welche großen Examen? Klingt natürlich auch irgendwie, also in der Mandarintradition. Die großen Examen ist, sagen wir mal, wenn du im Knast gewesen bist, wenn du aufs Land verschickt worden bist und so weiter, also die ganzen Leidenserfahrungen hinter sich. Das ist für sie ein gestandener Mann und nicht irgend so ein Teenie wie sie auch.

Kassel: Wobei man dazusagen muss, Sie haben es noch gar nicht gesagt, weil Sie es so selbstverständlich finden, sie ist natürlich mehr oder weniger vielleicht nicht Prostituierte, darüber kann man sich streiten, aber sie bietet ihm wie anderen auch schon am Ende dann auch noch Sex gegen Geld an, was auch insofern eine interessante Geschichte ist, weil das in China einerseits streng verpönt ist, andererseits alltäglich.

Claussen: Ja, das ist ja deswegen … also ich würde das nicht Prostituierte nennen oder sonst etwas, sondern …

Kassel: Mehr oder weniger.

Claussen: Das sind eben diese Art von erotischen Kontakten, die aber nach ganz anderen, also irgendwie anders laufen. Und das ist auch eben das Interessante, dass wir eben einen Einblick in den chinesischen Alltag bekommen, so wie wir das überhaupt nicht gewohnt sind.

Kassel: Sie haben jetzt in einem Punkt, aber mit viel besseren Absichten genau das gemacht oder genau das verursacht, hoffe ich, was die chinesische Führung auch verursacht hat, wenngleich mit vollkommen anderen Absichten als Sie: Ich glaube, viele Menschen haben jetzt Lust, dieses Buch zu lesen, und man kann es tun. Es ist ja, wenn man streng sein will, nur ein Zehntel der Gespräche, die er geführt hat, aber die haben es in sich. Herr Claussen, ich danke Ihnen für das Gespräch und empfehle allen das Buch. Detlev Claussen, Soziologe aus Hannover, hat das Nachwort geschrieben zu den knapp 30 Gesprächen, die zu finden sind von Liao Yiwu in dem Band "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser". Das Buch ist im S. Fischer Verlag erhältlich. 29 Geschichten, wenn ich richtig gezählt habe, in neuer korrekter Übersetzung. Es lohnt sich vielleicht mehr, als stundenlange Filme über China zu sehen. Danke, dass Sie da waren!

Claussen: Schön!