Chiles 9/11

Der lange Kampf gegen Pinochets Erbe

22:31 Minuten
Einheiten der putschenden Militärs feuern vom Dach eines gegenüberstehenden Gebäudes auf den Palast, 11. September 1973.
Beginn der Diktatur in Chile: die Erstürmung des Moneda-Palastes in der Hauptstadt Santiago de Chile am 11. September 1973. © picture-alliance / dpa / AFP
Von Sophia Boddenberg und Anne Herrberg · 08.09.2021
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Der chilenische 11. September erfolgte 1973. Unter der Führung von Augusto Pinochet putschte das Militär gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Erst jetzt wird die damals erlassene Diktaturverfassung abgeschafft.
Mit wehenden Fahnen und selbst gebastelten Pappschildern sind sie auf die zentrale Plaza Italia von Santiago gezogen. Sie schlagen auf Töpfe und Pfannen, trommeln, singen Protestlieder – der Reiterstatue des Militärgenerals in der Mitte des Platzes haben sie eine alte Kasserole übergezogen. Asesino, steht darauf gesprüht, Mörder. Es sind die größten Proteste seit dem Ende der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet 1990.
"Wir sind wütend, weil die Verfassung aus der Diktatur weiter besteht, während der es Tote und Verschwundene gab. Aber wir müssen weiterkämpfen für eine bessere Zukunft. Chile ist endlich aufgewacht nach all diesen Jahren."
"Wir sind auf der Straße, um ein würdiges Leben zu fordern, mit gerechtem Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit. Wir haben unsere Eliten satt, die nichts anderes suchen, als Profit zu machen, und zwar auf unserem Rücken!"

Bei den Protesten ist immer wieder das Gesicht eines Mannes zu sehen, gemalt auf Plakate, gedruckt auf T-Shirts, als Stencils an die Wände gesprüht. Er trägt Anzug, Krawatte, die Haare ordentlich nach hinten gekämmt, dazu Schnauzer und die unverkennbare dicke, schwarze Hornbrille. Jeder kennt ihn, nicht nur in Chile: Salvador Allende. Am 4. September 1970 wurde seine Koalition, die Unidad Popular, demokratisch in die Regierung gewählt.
Es war das erste Mal, das Erika Hennings wählen konnte, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten engagiert sie sich damals beim MIR, der Bewegung revolutionärer Linker.

Der Traum von einem gerechten Land

"Ich weiß noch, wie wir auf kleinen Lastwagen ins Zentrum gefahren sind, eine lange Karawane hatte sich gebildet, die Leute schwangen Fahnen und sangen. Ich saß oben auf der Ladefläche. Uns alle verband der Traum von einem gerechten Land, mit Gleichberechtigung, ohne Elend und Armut. Es war ein Moment voller Hoffnung!"

Salvador Allende und sein Projekt des "Sozialismus in Freiheit" haben die Linke weltweit begeistert, sagt Detlef Nolte, ehemaliger Direktor des GIGA-Instituts für Lateinamerikastudien und Chile-Experte. Umso größer die Enttäuschung, als das Projekt so abrupt endete. Eine Lehre daraus war, ein breiteres Bündnis quer durch die Bevölkerung zu suchen. Was Chile heute interessant macht, ist die Arbeit an der neuen Verfassung. Das ganze Interview hören Sie am Ende dieser Weltzeit.

Ein Mann reitet auf einem Pferd und um ihn herum laufen Menschen.
© picture alliance / dpa / UPI
Die Unidad Popular setzte soziale Reformen um, stärkte die Rechte der Arbeiter und verstaatlichte Chiles Kupferbergbau. Medikamente, Arztbesuche und Schulbücher waren kostenlos. Großgrundbesitz wurde enteignet, mehr als sechs Millionen Hektar Land umverteilt. Gonzalo Cáceres arbeitete unter Allende im Agrarministerium.
"Eines der interessantesten Projekte Allendes war die Landreform, die Integration der Indigenen vom Volk der Mapuche, die Verteilung der Böden, die Gewerkschaftsrechte. Wir schliefen fast nicht, wir lebten dafür. Das Land musste auf eine andere Weise organisiert werden."

Doch Allendes radikale Politik - Bodenreform, Verstaatlichung, Preiskontrolle – stieß bald auf Widerstand. Und der war stark: Industrielle, Konservative und Großgrundbesitzer. Die Lebensmittelzufuhr wurde blockiert, die Wirtschaft begann zu lahmen. Der mächtigste Widersacher saß dazu in Washington und unterstützte von dort die Opposition gegen die sozialistische Regierung Allende. Die Welt war im Kalten Krieg.


"Am 11. September 1973 weckte mich mein Bruder auf, er kam in mein Zimmer und sagte: Putsch."
Der chilenische Staatspräsident Salvador Allende Gossens (schwarzweiß Aufnahme)
Salvador Allende: "Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie schreiben."© picture-alliance / dpa / AFP

Die letzten Worte von Salvador Allende

Beatriz Bataszew war damals 18 Jahre alt und engagierte sich bei der MIR, der Bewegung der Revolutionären Linken. Am Morgen des 11. September 1973 kommen die Panzer, dann schwirren die Bomber der chilenischen Luftwaffe heran, greifen im Sturzflug den Regierungspalast La Moneda an. Um 11 Uhr richtet Salvador Allende über das Radio Magallanes seine letzten Worte an die chilenische Bevölkerung.
"Mit meinem Leben zahle ich die Treue dem Volk gegenüber. Aberich habe die Gewissheit, dass nichts verhindern kann, dass die von uns in das edle Gewissen von Tausenden und Abertausenden Chilenen ausgebrachte Saat aufgehen wird. Ihnen gehört die Gewalt, sie können uns unterwerfen, aber weder Verbrechen noch Gewalt können die gesellschaftlichen Prozesse aufhalten. Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie schreiben."

Allende wird später von Militärs mit einer Schusswunde in seinem Büro tot aufgefunden. Sie geben daraufhin bekannt, dass er Selbstmord begangen habe. Mit ihm stirbt der Traum von einem demokratischen Weg zum Sozialismus in Lateinamerika, sagt Gonzalo Caceres.
Verhaftete Menschen müssen auf dem Boden liegen beim Putsch des Militärs gegen den Präsidenten Salvador Allende in Santiago, Chile, 11. September 1973.
Nach dem Putsch ging das Militär mit äußerster Härte gegen die Opposition vor. Hier am 11. September 1973 in Santiago.© picture alliance / AP Photo
"Der Putsch kam mit dem Ziel, alles zu beenden und bei null anzufangen, um einen autoritären, gewaltsamen Staat aufzubauen. Chile wurde verändert, sie haben alles verändert. Und warum? Um ein Chile aufzubauen, das im Dienst der Reichen steht, und um das Land zu plündern.
General Augusto Pinochet, Absolvent des berüchtigten US-Trainingscamps für lateinamerikanische Militärs, School of Americas, ernennt sich selbst zum Präsidenten.

Kein Putsch, sondern der Aufruf zum Aufstand

"Ich war zu diesem Zeitpunkt in Washington. Ich arbeitete bei der Organisation amerikanischer Staaten. Ich erinnere mich, dass plötzlich jemand zu mir sagte: Hast du gehört, was in Chile passiert ist? Es gab einen militärischen Aufstand."
Rolf Lüders Schwarzenberg spricht beim 11. September 1973 nicht von Golpe, Putsch. Er nennt die Ereignisse "Pronunciamiento", einen Aufruf zum Aufstand. Und er ist bis heute überzeugt: Die Machtergreifung des Militärs hat Chile vor einem totalitären linken Regime gerettet – Lüders, Wirtschaftswissenschaftler, einflussreicher Banker und später Wirtschaftsminister unter Pinochet:
"Allende war Marxist, ein Sozialist, er wollte Chile in ein zentralistisches System verwandeln, in einen sozialistischen Staat wie die Sowjetunion. Und die Wirtschaft, der es ohnehin schon schlecht ging, brach ein, sie krachte zusammen, krachte zusammen, das Bruttosozialprodukt fiel, die Inflation lag bei 500 Prozent und die Reserven aufgebraucht. Es war schlimm. In den Supermärkten gab es nichts zu kaufen, man bekam nur etwas auf Lebensmittelkarten wie in Kuba. Das hat den Boden bereitet, für das Eingreifen der Militärs und die Reform der Wirtschaft."


Und diese Reform war radikal. Diktator Augusto Pinochet ließ Chiles Wirtschaft komplett umkrempeln. Chile sollte zum Bollwerk gegen den Kommunismus in Lateinamerika werden. Grundlage dafür war "El Ladrillo", eine Backstein-schwere Programmschrift, die - das belegen Dokumente der CIA später - von der US-Regierung finanziert wurde - und Chile bis heute prägt. Daran mitgeschrieben hat unter anderem Rolf Lüders.
Der chilenische Präsident und Diktator Augusto Pinochet hält eine Rede am Tag der Volksabstimmung über eine neue Verfassung am 11.09.1980 in Santiago de Chile.
Mit dem chilenischen Diktator Pinochet sollte das Land zum Bollwerk gegen den Kommunismus in Lateinamerika werden.© picture alliance / UPI
"Ich glaube, dass unsere Wirtschaft oder eine andere klare Linie in Chile nicht ohne ein diktatorisches Regime hätte umgesetzt werden können. Denn die Meinungsverschiedenheiten waren damals sehr groß, nicht nur in Chile, auch international. Die Visionen für das Wohl der Entwicklungsländer waren einfach zu unterschiedlich."
Ihm sei es um die Wirtschaft gegangen, politisch will sich Lüders nicht äußern.

Folter- und Konzentrationslager für Regimegegner

Gonzalo Caceres, Erika Hennings und Beatriz Bataszew gehören zu jenen, die eine andere Vision hatten. Damit galten sie als Regimegegner und wurden wie Zehntausende brutal verfolgt. Militär und die Geheimpolizei DINA errichten im gesamten Land Folter- und Konzentrationslager.
"Ich war 20 Jahre alt, ich wurde am 12. Dezember 1974 festgenommen und sie brachten mich in ein Folterzentrum, das unter dem Namen "Venda Sexy" bekannt ist. Es hatte eine Besonderheit: die ganz spezifische Unterdrückung von Frauen. Politische sexualisierte Gewalt, andere nennen es sexualisierte Folter."
In der zynisch "Venda Sexy" genannten Folterkammer wurde den Opfern die Augen mit einer Venda, einer Augenbinde, gefesselt, bevor Militärs und Geheimdienstler sie missbrauchten und vergewaltigten, auch Hunden wurden eingesetzt, um die Gefangenen zu demütigten. Mit lauter Musik wurden die Schreie der Frauen übertönt. Mehr als 3000 Menschen verschwanden spurlos – darunter Erika Hennings Lebensgefährte Alfonso Chanfreau. Bis heute weiß sie nicht, was mit ihm passiert ist. Sie selbst flüchtete nach ihrer Gefangenschaft ins Exil nach Frankreich. Gonzalo Caceres in die Bundesrepublik.
"Zuerst wurden die sozialen Organisationen zerschlagen, dann die Gewerkschaften, jede Art kritischer Stimmen. Es war ein perfekt ausgeführter Plan, um machen zu können, was sie gemacht haben."
17 Jahre hält Pinochet die Diktatur aufrecht, doch auch nach der Rückkehr zur Demokratie wiegt sein Erbe schwer. Die Diktaturverfassung ist, wenn auch mit Reformen, bis heute in Kraft. Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen kommt nur schleppend voran, sagt Beatriz Bataszew.
"Ich glaube, dass die Straffreiheit beim Übergang zur Demokratie vertraglich garantiert wurde. Und es wurde garantiert, dass das neoliberale System nicht berührt werden würde. Dass die öffentlichen Güter, die das große Unternehmertum sich angeeignet mit denen es sich bereichert hatte, nicht zurückgewonnen werden würden. Dass das Wirtschaftsmodell nicht berührt werden würde."

Demonstrationen 2019 erinnern an Pinochets Diktatur

Es sind 30 Pesos, die im Oktober 2019 alles explodieren lassen, eine Erhöhung der Nahverkehrspreise um weniger als drei Eurocent setzt eine Protestwelle in Gang, wie sie Chile noch nie erlebt hat. Schüler und Schülerinnen wie die 18-jährige Isabel Galindo rufen zum kollektiven Schwarzfahren auf, U-Bahn-Stationen brennen, Präsident Piñera spricht von Krieg und schickt das Militär auf die Straße, erstmals seit Diktaturende.
"Meine Großmutter hatte Angst, weil sie dachte, dass es erneut einen Militärputsch geben würde und dass mir das schaden könnte. Der soziale Aufstand war ein radikaler Wandel. Es sind die Älteren, die mehr Angst haben. Je jünger man ist, desto weniger Angst hat man."


Carabineros, die chilenische Polizei und das Militär gehen mit brutaler Härte gegen den Demonstrierenden vor. Leslie Arameda leistet damals als Menschenrechtsbeobachterin Erste Hilfe auf den Straßen. Die Szenen wecken bei ihr sofort Erinnerungen an die Diktatur – und an ihre eigene Familiengeschichte. Aramedas eigener Vater war Polizist während der Pinochet-Diktatur.
Szenen einer gewaltvollen Demonstration in den Straßen von Santiago de Chile. Im Vordergrund Demonstranten, die sich mit Türen schützen, im Hintergrund eine Masse von Menschen im Tumult.
Es sind 30 Pesos, die im Oktober 2019 alles explodieren lassen: Nationaler Streik und Proteste gegen Präsident Pinera in Santiago.© picture alliance / NurPhoto / Pablo Rojas Madariaga
"Auf einmal, während der Proteste, sehe ich wieder die Polizeigewalt vor mir und ich gehe einfach auf die Typen zu, es war völlig irrational. Ich beginne, sie zu beschimpfen, sie anzuschreien, dass sie das Leben ihrer Familie kaputtmachen, dass ihre Kinder sie einmal hassen werde für all das, was sie da auf der Straße machen. Mit einer Wut, die von irgendwo ganz tief in mir drinnen kam. Ich bin die Tochter eines Mörders der Pinochet-Diktatur, sagte ich. Ich sagte die Worte, die ich meinem Vater nie so deutlich gesagt hatte. Es war wie eine Katharsis."
Als eine der wenigen wurde Aramedas Vater rechtskräftig verurteilt, wegen Beihilfe für brutale Verbrechen gegen die Mapuche-Indigenen im Süden Chiles, er selbst bestreitet die Taten bis heute. Seine Tochter arbeitet dagegen für die Aufarbeitung – im Dokumentationszentrum Londres 38, einem ehemaligen Folterkeller der Pinochet-Schergen mitten im Zentrum der Hauptstadt. Geleitet wird es heute von Erika Hennings, die selbst dort gefoltert wurde – ihr Lebensgefährte wurde von dort verschleppt.

"Der Kampf geht weiter"

"Es ist nicht so sehr der Terror, als vielmehr tiefer Schmerz, den ich mit diesem Gebäude verbinde, es war schwer am Anfang. Aber wir haben dafür gekämpft, diesen Ort zu unserem zu machen. Nicht nur einen Ort der Erinnerung, sondern einen Raum des Austausches, der Konstruktion des Hier und Jetzt. Das gibt mir Genugtuung. Denn, auch wenn es ein klischeehafter Satz ist, er stimmt: Der Kampf geht weiter."
Am 5. Juli 2021 erklingt im alten Kongresspalast von Chile der Ruf der Trutruka, der traditionellen Trompete des indigenen Mapuche-Volkes. Mit der blau-rot-grünen Wenufoye-Flagge in der Hand beginnt Elisa Loncon ihre erste Ansprache als Präsidentin des chilenischen Verfassungskonvents. Sie spricht auf Mapudungun, der Sprache der Mapuche, und auf Spanisch.
Ihr Urgroßvater kämpfte gegen das Militär, ihr Großvater saß in Zeiten der Diktatur im Gefängnis – Elisa Loncon, Lehrerin und Sprachwissenschaftlerin mit zwei Doktortiteln, sorgt nun mit dafür, dass die alte Pinochet-Verfassung abgeschafft wird.
"Wir werden eine neue Verfassung schreiben, in der die Rechte von allen Chilenen garantiert werden, aus allen Regionen, von allen Völkern. Wir wollen Geschlechterparität und Plurinationalität, die Anerkennung der Rechte der indigenen Völker und der Rechte der Mutter Erde. Öffentliche und qualitative Bildung. Würdevolle Renten. Für all das haben die Menschen protestiert. Und ich hoffe, dass all diese Forderungen einen Platz im neuen Chile haben werden, das sich nun neu aufstellt, mit der neuen Verfassung."
Der Weg ist lang, die Widerstände groß. Doch Lateinamerika blickt heute wie zu Allendes Zeiten erneut mit Spannung auf den chilenischen Weg.
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