Chemnitz und Karl-Marx-Stadt

Auf dem Weg in eine "Lynchokratie"

Demo in Chemnitz
Rechte demonstrieren am 27.08.2018 am Karl-Marx-Monument in der Innenstadt von Chemnitz. © imago stock&people
Von Lutz Rathenow · 31.08.2018
Chemnitz hat Museen, Literatur und Kunst. Warum bricht sich hier ein Zorn gegen den liberalen Rechtsstaat Bahn? Lutz Rathenow, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, sagt: Wer das verstehen will, sollte auf die Geschichte dieser Stadt sehen.
Wie lassen sie sich verstehen, diese Gruselbilder aus der mittelsächsischen Gegenwart?
Ein rechtsradikal aktivistischer Hooliganklüngel eines nicht gerade durch Spitzenfußball bekannten Fußballklubs netzwerkt sich in kürzester Zeit Tausende Menschen zusammen, die den Rechtsstaat ein paar blasse Paragrafen sein lassen wollen, weil sie sich im Handlungsrecht fühlen. Und das fühlen sie umso mehr, je eher sie sich auf der Straße in einer Masse verstecken können, die wieder einmal Macht verheißt über andere. Warum erst Ermittlungsorgane bemühen, wenn man (es ist nicht nur, aber meist Mann) selbst Menschen jagen kann.

Dieses Handeln ist so primitiv wie der Sprach-Reim eben. Und doch geeignet, rechtsstaatliche Standards auszuhebeln und die zu westeuropäisch gutmenschverstrahlte Demokratie in Richtung einer Lynchokratie weiterzuentwickeln. Eine Mail sah ich, in der einer ethnische Säuberungen verlangt, mit denen alle potentiellen Mörder ausgesondert werden müssten.

Fast wie ein trotziges Kunstwerk der Abgrenzungslust

Und das alles auf einem Platz unter dem großen Denkmalskopf von Karl Marx, dem eigentlichen Wahrzeichen der Stadt Chemnitz. Ein zutiefst irritierender Beitrag zum Karl-Marx-Jahr, auch wenn am nächsten Montag dort Rocker und Rapper gegen Rechts spielen werden. Das zeigt, wie schnell Gedenkkultur als bloße Denkmalskultur wirkungslos bleibt, wenn sie nicht mehr verstanden oder nicht für wichtig gehalten wird. Gedenkstätten können auch zu Erinnerungsverhinderungsstätten werden.
Bisher schien Dresden die Hauptstadt der Dauerempörten zu sein. Im Angesicht von Chemnitz kann sich Dresden wieder einmal einbilden, doch anders und kultivierter zu handeln. Gehobener, abgehobener. Aber der harte Kern der Wutbürger macht auch in Dresden einfach weiter und hat sich so an seine Losungen und die frische Luft jeden Montag gewöhnt, dass er trotzig selbstbewusst selbst wie ein Kunstwerk der Abgrenzungslust wirkt.

Informationen gefährden die Gewissheit

Neben der Anti-Merkel-Paranoia scheint der knapp vier Jahre währende Lügenpresse-Ruf ein unersättlicher Popanz zu sein, der immer größer werden will. Damit man ja nie vergisst, wer der Feind ist und einem womöglich die Selbstsicherheit flöten geht, immerzu recht zu haben. Es gibt keine Institution, der soviel Ablehnung entgegenschlägt wie der Presse, dem öffentlich-rechtliche Rundfunk und dem Fernsehen. Die Politik soll sich ja AfDisieren, die Presse und ihre Meldungen dagegen stören oft einfach.
Man will die Artikel nicht lesen, in denen die Verhältnisse in Syrien oder dem Irak erklärt werden, Informationen gefährden die Gewissheit. Sich nur nicht mit dem Schicksal der beiden mutmaßlichen Täter aus jenen Ländern beschäftigen. Nur nicht über die Unterstützung der DDR, also Ostdeutschlands, für die syrischen und irakischen Diktatoren sprechen. Nur nicht über die eigene Begeisterung für Russlands Präsidenten Putin nachdenken, der mit seiner Kriegsunterstützung in Syrien auch Flüchtlinge für Deutschland produziert. Weiterhin.

Wenig Sinn, möglichst laute Distanzierungen zu verlangen

Chemnitz ist keine schöne, aber eine innovative Stadt, mit tollen Museen, verschiedenen künstlerischen und literarischen Szenen. Auch mit dem ehemaligen Freikaufgefängnis der Staatssicherheit, über das alle ostdeutschen Gefangenen in den Westen gelangten. An der DDR-Geschichte lässt sich viel über widersprüchliche Situationen erkennen.
Man schaue sich die Ausstellung des Leipziger "Archivs Bürgerbewegung" über "Rassismus in der DDR" an. Nicht, weil sie die heutigen Ursachen für Gewalt erklärt. Sondern weil sie zeigen kann, wie aus Uninformiertheit und rassistisch grundierter Verschwörungsbereitschaft ein gewalttätiger, menschenbekämpfender Extremismus entsteht. Es hat wenig Sinn, möglichst laute Distanzierungen zu verlangen. Stattdessen muss jeder von uns ganz genau hinschauen, und erfragen, was sich da wie aus welchen Komponenten entwickelt.

Lutz Rathenow, 1952 in Jena geboren, lebte bis zum Mauerfall in Ostberlin, heute in Dresden und Berlin. Rathenow ist Lyriker, Kinderbuchautor, Kolumnist und Gelegenheitsdramatiker. Er flanierte zwischen politischer und subkultureller Opposition in Berlin. Kurze Zeit wegen des ersten Buches inhaftiert. Seit 2011 ist er Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sehr erfolgreich die Neuausgabe: "Ostberlin –die verschwundene Stadt" (mit Fotos von Harald Hauswald), Jaron 2017, zuletzt: "Der Elefant auf dem Trampolin: Gedichte zum Größerwerden", leiv 2018.

Der Schriftsteller und Lyriker Lutz Rathenow 
© picture alliance/dpa/Foto: Horst Galuschka
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