Chemnitz

Freitags ist die Innenstadt tabu

15:51 Minuten
Am Freitagabend marschieren mittlerweile regelmäßig Anhänger der rechten Bewegung "Pro Chemnitz" durch die Straßen der Stadt, hier am 7.9.2017
Aktivisten von "Pro Chemnitz" bei einem Marsch durch die Stadt © AFP / John Macdougall
Von Thilo Schmidt · 25.02.2019
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In Chemnitz kann es lebensgefährlich sein, wenn man Flüchtling ist, wenn man Flüchtlingen hilft, wenn man sich für Flüchtlinge einsetzt oder wenn man für einen Flüchtling gehalten wird. Doch es gibt Aktivisten, die dies ändern wollen. Doch sie haben es schwer.
Starr ist der Blick von Karl Marx. Unter seinen Augen spielten sich vor einem halben Jahr Szenen ab, die das Land, ja die Welt, auf Chemnitz blicken ließen. Unter dem steinernen Monument des einstigen Namensgebers der Stadt nahmen die fremdenfeindlichen Ausschreitungen Ende August ihren Ausgang als Reaktion auf den Tod von Daniel H., der in einer Auseinandersetzung mit Flüchtlingen erstochen worden war.
"Die wöchentlichen Demos, die Überfälle auf die Restaurants, Überfälle auf Ausländer, auf Migranten, auf jeden, der anders aussieht, wir haben das ja ständig erlebt, das war schon ein Einschnitt. Natürlich ist das nicht die Mehrheit von Chemnitz, die da mitmarschiert, der größte Teil der Stadt mag das nicht und will nicht freitags Nazi-Demos in der Stadt sehen oder Rassisten durch die Straßen ziehen", sagt Gabriele Engelhardt vom Bündnis "Aufstehen gegen Rassismus".

"Pro Chemnitz" mobilisiert für Proteste

Hunderte, bisweilen Tausende mobilisierte die rechtsextreme Bürgerbewegung "Pro Chemnitz" in den Wochen danach, immer freitags. Führender Kopf: Der Stadtverordnete und Rechtsanwalt Martin Kohlmann.
"Die kommen teilweise aus dem Umfeld der Nationalen Sozialisten Chemnitz, der Kohlmann war früher bei den Republikanern. Die haben natürlich im Zuge der Ereignisse vom August die Gunst der Stunde genutzt und was man bei denen freitags hört, das ist einfach unerträglich", so Engelhardt.
"Bei den jungen Männern ist in Chemnitz jeder dritte Ausländer. Ich rede nicht von Offenbach! Ich rede nicht von Köln und Hamburg! Ich rede von Chemnitz! Jeder dritte junge Mann in Chemnitz ist kein Deutscher!" sagt Kohlmann. Und das Gift sickert ein. Vor allem im Anschluss an die freitäglichen Kundgebungen von "Pro Chemnitz" werden Migranten überfallen.
Dass es bei den Ausschreitungen im August Hetzjagden gegeben hat, wurde von Sachsens Ministerpräsident und – ausgerechnet – vom damaligen Verfassungsschutzchef abgestritten. Alles nicht so schlimm also?
Auch in Chemnitz arrangiert man sich irgendwie.
Gabriele Engelhardt: "Das Problem ist, dass es so eine gewisse Normalisierung gebracht hat. Freitags ist halt Pro Chemnitz in der Innenstadt und da geht man halt nicht in die Stadt. Es hat sich auch bemerkbar gemacht, dass in den Geschäften die Umsätze geschwunden sind. Aber wir haben trotzdem versucht, einen Widerstand aufzubauen und uns dagegen zu positionieren. Und ich denke, sehr, sehr viele Chemnitzer stehen da auf unserer Seite und wollen eigentlich mit Nazis und Rassisten auch nichts zu tun haben."

Migranten werden attackiert, Tag für Tag

Chemnitz, sagt Gabriele Engelhardt, habe eigentlich eine gute Tradition im Widerstand gegen rechtsextreme Umtriebe. "Aufstehen gegen Rassismus" und andere Organisationen versuchten so gut es geht, sich Pro Chemnitz in den Weg zu stellen. "Die sind insofern auch 'ne Gefahr, weil die mit ihren Bürgerstreifen, was eigentlich Bürgerwehren sind, wie man das bezeichnet ist ja eigentlich egal, aber was dann hinten rauskommt ist ja, dass dann Leute losgehen und das Gesetz in die eigene Hand nehmen uns Selbstjustiz verüben", so Engelhardt.
Über Karl Marx und den Stadthallenplatz legt sich eine Schneedecke. Es ist kalt in Sachsens drittgrößter Stadt, die gar nicht so wirkt, wie man sie sich nach den Medienberichten der letzten Monate vielleicht vorstellt. Viele Migranten, studentisches Leben, ein Hauch von Internationalität. Auch kein Ostrentner-Refugium, wie ein anderes Klischee besagt. Was man aber als weißer Deutscher nicht bemerkt: Migranten werden attackiert, Tag für Tag.
"Täglich werden hier die Migranten provoziert. Und viele lassen das über sich ergehen, weil sie wollen keine Probleme. Jeden Tag werden Menschen in Behörden, auf der Straße, auf Arbeit, in Bussen, angepöbelt, besonders Frauen mit Kopftüchern. Die werden bespuckt, manche versuchen, das Kopftuch wegzureißen, die hören sehr schlimme Sachen, die sie teilweise auch nicht verstehen. Und das ist auf Dauer hier kein Zustand! Die Menschen fühlen sich alleine gelassen", sagt Rola Saleh. Sie ist gebürtige Libanesin und kam vor 17 Jahren nach Chemnitz.
Für die Sozialarbeiterin stellt sich die Frage nicht, ob es nun in Chemnitz Hetzjagden gegeben habe – sie war mittendrin: "Und dieses berühmte Video, das stand ich auch auf der anderen, gegenüberliegenden Seite und hab das beobachtet, wie die Menschen diese Jungs angegriffen haben und hinter denen hergelaufen sind."

Polizei kann Sicherheit nicht gewährleisten

Es geht um das Hase-du-bleibst-hier-Video vom 26. August, das Verfassungsschutzchef Maaßen ohne ersichtlichen Grund oder gar nachrichtendienstliche Erkenntnisse als Fälschung bezeichnete.
Maaßens Motive blieben im Dunkeln, zumal es für diese und andere Szenen während der Ausschreitungen weitere Videos und Zeugenaussagen gibt. Rola Saleh wurde auch selbst angegriffen; auch das ist dokumentiert. "Ich wurde angegriffen, ich hab das alles miterlebt, bei mir war es nicht so schlimm wie bei anderen, es wurden viele angegriffen, die nicht mal erwähnt wurden. Mir haben Menschen erzählt, dass die Rechten überall in der Innenstadt an den Ecken gelauert haben und Andersaussehende angegriffen haben. Das steht auch nirgendwo", sagt sie.
Als Polizisten hinzustoßen, rieten sie ihr, den Platz zu verlassen, weil sie ihre Sicherheit nicht gewährleisten können. Die Ausschreitungen gerieten für die Sächsische Polizei zum Fiasko. Viel zu wenig Kräfte waren vor Ort, die Situation drohte, außer Kontrolle zu geraten. Ohnedies stehen Teile der Sächsischen Polizei wegen fragwürdiger Beziehungen zur rechten Szene in der Kritik.
Rola Saleh: "Ich möchte nicht sagen, dass die ganze Polizei hier in Chemnitz schlecht ist. Ich hab auch Freunde in der Polizei. Aber ich weiß, dass auch in der Polizei viele Rechte sind, und wenn ich als Migrantin in Chemnitz – wenn mir was zustößt, und ich die Polizei anrufe, weiß ich nicht, ob mein Feind oder mein Freund kommt. Das ist die Realität, in der wir leben."

Schon drei Mal Hakenkreuze an der Fassade

Seit einem Jahr betreibt Masoud Hashemi das persische Restaurant "Safran" im Westen der Innenstadt. Hashemi, ein zarter, feingliedriger Mann, kam vor fünf Jahren aus dem Iran nach Deutschland. Drei Mal wurden bereits Hakenkreuze an seine Fassade gesprüht. "Chemnitz ist sehr gut, und sehr gute Menschen. 90 Prozent ist sehr gut und sehr nett. Aber zehn Prozent ist … ja, ist … kulturelle Armut." Am späten Abend des 7. Oktober putzt Hashemi den Gastraum, seine Frau die Küche, als drei Männer mit Motorradhelmen das Lokal betreten. "Ich habe gelacht und habe gesagt, hallo, herzlich willkommen", sagt Hashemi. Einer der Männer hebt darauf die Hand, zeigt den Hitlergruß. Wirft den Samowar auf Hashemi. Ein anderer beginnt, die Einrichtung zu zertrümmern.
"Dann kommen sie zu mir, schlagen … und haben vieles kaputtgemacht. Viel Glas - kaputt! .. in meinen Bauch geschlagen, den Kopf an die Heizung geschlagen. Dann ist Blut geströmt, ich hatte wirklich einen Schock. Alles kaputtgemacht. Und mein Kopf und mein Körper … alles kaputt." Geschirr, Einrichtungsgegenstände und Habseligkeiten, zertrümmert und in Scherben. Als die Männer fliehen, ruft Hashemi die Polizei. "Ich bin Nachbar der Polizei. Eine Minute ist es bis hierher zu laufen! Aber schade: Zehn Minuten oder 15 Minuten später erst kam die Polizei. Und natürlich waren die Männer weg." Hashemi kommt ins Krankenhaus. Genesen ist er nicht, der Angriff belastet ihn, bis heute.
"Acht Tage hat mein Kopf geblutet, und mein Bauch ist ein Problem und bis jetzt auch meine linke Körperhälfte. Sie ist taub. Ich bin viel bei der Physiotherapie gewesen. Aber bis jetzt: nicht wieder normal!"
Zwei seiner Mitarbeiter kündigen aus Angst. Seine Frau weint viel und ist depressiv, wie er sagt. Ans Aufhören denkt Hashemi trotzdem nur kurz:
"Ich gehe – die Nazis kommen. Ich muss bleiben! Ich war acht Tage im Krankenhaus. Der Arzt hat gesagt: Du musst noch bleiben! Ich habe gesagt: Nein, ich muss gehen zu meinem Restaurant! Und ich sage: Ich bin da, die Nazis müssen gehen, nicht ich! Natürlich: Ganz stark bleiben!"
Es ist nicht der einzige Angriff auf ein Restaurant. In ein türkisches Restaurant in Chemnitz fliegt Mitte Oktober ein Brandsatz. Es brennt komplett aus. Und bereits Ende August, am Rande der Ausschreitungen, wird das Jüdische Restaurant "Schalom" von einer Gruppe Vermummter mit Steinen und Flaschen angegriffen. Ein Stein trifft den deutschen Inhaber. "Hau ab, du Judensau", sollen sie gerufen haben. Masoud Hashemi hat selbstgemachtes persisches Eis serviert. Ob er Angst hat, frage ich: "Warum Angst? 90 Prozent der Menschen ist bei mir. Gott ist bei mir!"

Wo ist das andere Chemnitz?

Was ist los in Chemnitz?
Warum geht der Plan von Rechtsextremisten und Rassisten, Chemnitz zum Aufmarschgebiet zu erklären, auf?
Weil die Brandbeschleuniger auch in Staatskanzleien, Ministerien und Sicherheitsorganen sitzen?
Wo ist das andere Chemnitz?
Und wie geht es weiter?
Vielleicht weiß das Lars Faßmann. Er ist Stadtverordneter, Softwareentwickler. Er ist aber auch Immobilienunternehmer. Er kauft leerstehende Häuser und stellt sie Studenten und kulturellen Projekten zur Verfügung, ohne dass er davon reich werden will. Das macht auch ihn zur Zielscheibe der Rechtsextremisten.
"Ja, was heißt das Leben schwermachen? Natürlich, die Künstler, die jetzt hier unterkommen und Projekte machen, die sind da nicht böse drum, sondern freuen sich darüber, dass halt die Räume entsprechend zur Verfügung stehen. Was die Rechtsextremen angeht: Dort gibt es natürlich schon Leute, die sagen: Das ist uns alles zu bunt, das sind uns zu viele Künstlerinnen und Künstler, zu viele kulturelle Projekte, wir wollen das nicht, wir haben da irgendwas dagegen", sagt Faßmann.
Faßmann sitzt im Lokomov, seinem alternativen Veranstaltungszentrum mit Künstlerateliers, Proberäumen und Szenekneipe. Als hier 2016 eine Theatergruppe ein Theaterstück über den NSU erarbeitete, verübten Unbekannte einen Sprengstoffanschlag auf das Lokomov. Aus naheliegendem Grund: Eine lebenswerte, bunte Stadt, die Teilhabe ermöglicht und kulturelle Armut überwindet, entzieht rechtsextremen Vereinfachern den Nährboden.
"Das hat schon extreme soziale Effekte, das merken wir jetzt auch, wie sich hier Menschen verändert haben, die hier im Umfeld wohnen, wie teilweise die Leute auch mitmachen, wie sich halt auch so ein positives Lebensgefühl durch solche Projekte einstellt. Also das haben wir hier selber erlebt, und das kann man natürlich auch in anderen Teilen der Stadt entsprechend anwenden beziehungsweise verstärken. Das ist eigentlich gut investiertes Geld. Und die Projekte, die es schon gibt, beweisen das sehr, jetzt muss man eigentlich nur noch tun", erklärt Faßmann.

Ein Normalität, die nur in Chemnitz Normalität ist

Im Stadtteil Sonnenberg, an dessen Rand das Lokomov liegt, leben viele Studenten und Migranten, an manchen Ecken erinnert es mit seinem Altbaubestand ein wenig an Kreuzberg. 15 Gehminuten entfernt - im Café International - berät der irakisch-stämmige Maythem Jabar Abdulhassan Flüchtlinge und Migranten:
"Unser Konzept: Wir bieten Hilfe für die Flüchtlinge, die hier in Chemnitz ankommen, für die ganz normale Orientierung im Leben. Wir übersetzen die Briefe, schreiben für sie auch die Briefe, wir machen für sie Termine beim Arzt, bei den verschiedenen Ämtern, und wir begleiten sie auch. Die haben ihre ganz normalen amtlichen Briefe, oder Bescheide zu übersetzen, zu erklären, und so weiter."
Maythem Jabar Abdulhassan hilft vielen Migranten bei ihren Gängen und in ihrem Schriftverkehr mit den Behörden
Maythem Jabar Abdulhassan hilft vielen Migranten bei ihren Gängen und in ihrem Schriftverkehr mit den Behörden © Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Maythem Jabar Abdulhassan sitzt an einem kleinen Tisch und geht mit seinen Besuchern Formulare durch, übersetzt Bescheide, macht Notizen. Seit 1996 betreiben Caritas und Diakonie das Café International gemeinsam. Nicht nur als Beratungsstelle, sondern auch als Begegnungsstätte.
"Ich bin so stolz, ich bin total stolz auf viele Chemnitzerinnen und Chemnitzer, sie haben uns unterstützt, sie waren immer mit dabei, also in verschiedenen Sachen. Also sie haben die andere Seite, das andere Gesicht von Chemnitz gezeigt, und da bin ich total stolz", sagt Jabar Abdulhassan. Die Aufregung habe sich etwas gelegt nach den Ausschreitungen. Man sei wieder zur Normalität übergegangen. Oder zu dem, was für Migranten in Chemnitz halt Normalität ist.

"Die ganze Welt ist meine Heimat"

"'Du musst raus, warum bist du hier?' Oder zum Beispiel 'Alle Asylbewerber oder Ausländer sind Terroristen'. Und immer nur schlechte Worte", sagt Arkan. Er ist mit seiner Familie aus Mossul im Nordirak geflohen, braucht Hilfe, weil er Formulare ausfüllen muss, die er nicht versteht. Er arbeitet als Kraftfahrer, seine Kinder besuchen die Schule und den Kindergarten - ein normales, bürgerliches Leben, wäre da nicht der Rassismus, der ihn jeden Tag vor die Frage stellt, ob er Chemnitz verlassen sollte:
"Meine Frau hört sich noch mehr an als ich. Denn meine Frau hat ein Kopftuch. Deshalb überlegen wir: Hierbleiben oder nicht? Oder muss ich umziehen?"
An der Pinnwand im Café International hängt ein Bonmot von Thomas Paine, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten. Er steht dort in deutschen und arabischen Schriftzeichen. Es ist Abdulhassans Leitgedanke:
"Die ganze Welt ist meine Heimat, alle Menschen sind meine Brüder, und der Wille zum Guten ist mein Glaube."
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