Chauvinismus und Nationalismus in Russland

Vorgestellt von Gesine Dornblüth · 10.12.2006
Im Januar 2003 wurde im Moskauer Sacharow-Zentrum die Kunstausstellung "Achtung, Religion!" verwüstet. Doch nicht die Täter wurden vor Gericht gestellt, sondern die Ausstellungsmacher und Künstler. Sie wurden wegen "Beleidigung der religiösen Gefühle des russischen Volkes" angeklagt und mit Lagerhaft bedroht. Das absurde Verfahren gegen die Künstler verdeutlicht, wie Chauvinismus und Nationalismus in Russland allmählich die Oberhand gewinnen.
Michail Ryklin schildert in seinem Buch "Mit dem Recht des Stärkeren" den Gerichtsprozess und seine Folgen. Eindrucksvoll und nachvollziehbar analysiert er das politische Umfeld, und er zeigt das Versagen des russischen Kulturbetriebs, der diesen grotesken Feldzug gegen die Meinungsfreiheit kleinlaut, feige und widerspruchslos geschehen ließ. Absurd war aus Ryklins Sicht schon die Tatsache, dass es überhaupt zu einem Prozess kam.

"Für meine Begriffe war an der Ausstellung nichts Sensationelles. In den vier Tagen, die die Ausstellung gezeigt wurde, haben sie nicht mehr als zwanzig Personen besucht. In den Massenmedien erschienen ein paar kühle Besprechungen, die zeigten, dass die Ausstellung die Kunstkritiker nicht begeisterte, aber auch nicht entsetzte. Es war eine gewöhnliche, einfache Gruppenausstellung, wie sie in einer Metropole wie Moskau jedes Jahr zu Dutzenden stattfinden."

Michail Ryklin schreibt aus einer sehr persönlichen Sicht, denn er war direkt betroffen: Seine Frau, Anna Altschuk war eine der Künstlerinen der Ausstellung "Achtung Religion" und saß auf der Anklagebank. Der Prozess gegen die Ausstellungsmacher war durchgängig öffentlich.

"In der Gerichtsverhandlung begegneten wir und unsere Freunde einem Russland, das wir bis dahin praktisch nicht gekannt hatten. Überwiegend alte, schlecht gekleidete Leute füllten die Korridore, Treppenhäuser und den Sitzungssaal. In den Händen hielten sie Ikonen, Kreuze und religiöse Bücher, sie bekreuzigten sich ständig und sangen Gebete, manchmal fielen sie dazu direkt im Gerichtskorridor vor irgendeinem Büro-Safe auf die Knie. Sie veranstalteten Prozessionen um das Gerichtsgebäude. (...) All diese Männer und Frauen waren voller Gehässigkeit nicht nur gegen die Beschuldigten, sondern auch gegen deren Verwandte, Bekannte, die Zeugen der Verteidigung und die Anwälte. Sie beschimpften sie als "Jidden" und forderten sie auf, schleunigst aus Russland zu verschwinden."

Wie weit es mit den religiösen Gefühlen dieser Leute her ist, entlarvt Ryklin in einer weiteren aufschlussreichen Beobachtung: Einer der Zuhörer, die sich ja schon durch das bloße Ausstellen von Ikonenrahmen angeblich verletzt fühlten, malträtierte im Gerichtsgebäude Freunde der angeklagten Künstler mit einer mitgebrachten Ikone. Ryklin stellt auch die Ermittlungsbehörden bloß:

"Als während der Vernehmung wieder einmal ein Künstler sagte, man habe ihn im Korridor als "Jiddenfresse" beschimpft und ihm Gewalt angedroht, stand die Staatsanwältin Kira Gudim auf und sagte unbeirrt: ‚Sie haben diese Einstellung selbst provoziert.’ Es gab keinen Zweifel, die Vertreterin der staatlichen Anklage rechtfertigte die Praxis der Selbstjustiz. Die Anklageerhebung stützte sich auf ein von der Ermittlung in Auftrag gegebenes Gutachten von sechs Autorinnen, deren Namen Kennern der zeitgenössischen Kunst nichts sagten; dagegen waren sie in orthodox-fundamentalistischen Kreisen gut bekannt."

Ryklin zitiert diese Gutachten. Sie sind voller pauschaler Verurteilungen. Trotzdem fanden sie Eingang in das Urteil. Die Gegengutachten der Verteidigung hingegen nicht. Wenig überraschend ist Ryklins Schlußfolgerung, auf den Richter sei Druck ausgeübt worden. Leider erzählt der Autor nicht, wie dieser Druck funktioniert, und wer daran beteiligt war. Vollends grotesk wurde der Prozess durch die Forderung des Staatsanwalts, die Beweisstücke, nämlich die ausgestellten Kunstwerke, zu vernichten. Ryklin hält sich an dieser Stelle mit seiner Einschätzung zurück und zitiert stattdessen aus einem Brief von Jelena Bonner. Sie ist die Witwe des sowjetischen Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow und Leiterin des gleichnamigen Zentrums, in dem die Ausstellung stattfand.

"Die Forderung des Staatsanwalts, die Bilder der an der Ausstellung "Achtung, Religion!" beteiligten Künstler zu vernichten, bestätigt nur, dass es kein Verbrechen gegeben hat. Diese Forderung bestätigt, dass die Zeit kommt und geht, aber die HANDSCHRIFT DER ORGANE dieselbe bleibt. Verbrecher - ob Mörder, Räuber oder ein ungerechtes Gerichtsverfahren samt Ermittlung und Staatsanwalt - VERNICHTEN IMMER DIE CORPORA DELICTI."

Das Verfahren gegen die Künstler dauerte insgesamt eineinhalb Jahre. Am Ende wurde Ryklins Frau freigesprochen, die beiden anderen Angeklagten zu niedrigen Geldstrafen verurteilt.

"Zweck des Verfahrens war nicht die Härte der Strafe, sondern die Demonstration dessen, wer in der zeitgenössischen russischen Kultur die Spielregeln bestimmt und wer das Monopolrecht auf Interpretation besitzt. Heute wissen wir, es sind die Russisch Orthodoxe Kirche und die sie unterstützenden Kräfte."

In Westeuropa wird Michail Ryklin als ehrliche und besonnene Stimme geschätzt. Den Herbst hat er in Deutschland verbracht und die russischen Reaktionen auf sein Buch aus der Ferne verfolgt.

Ryklin: "Ein Polittechnologe schreibt im Internet, mein Buch sei aus der Sicht eines Menschen geschrieben, der Russland hasse und der Russland fremde Werte aus Europa aufzwingen wolle. Aber warum sollte ich Russland hassen? Es ist nur so, dass der Begriff Patriotismus in Russland zur Zeit von Leuten besetzt ist, die in Wirklichkeit Chauvinisten sind. Sie schaffen Feindbilder, und sie versuchen, den Begriff Patriotismus zu monopolisieren. Dagegen trete ich an. Auch ich möchte eine bessere Zukunft für mein Land, aber ich bestehe auf dem Recht, Patriotismus auf meine Art zu definieren."

Michail Ryklin hat ein wichtiges, ein beunruhigendes Buch geschrieben.


Michail Ryklin: Mit dem Recht des Stärkeren
Die russische Kultur in Zeiten der gelenkten Demokratie

Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2006
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