Charedim in Jerusalem

Wie ultraorthodoxe Jüdinnen leben

Eine Frauenhand zeigt mit einem Stab auf eine Tora-Rolle.
Ultraorthodoxe Juden weisen Frauen eine besondere Rolle zu. © imago stock&people
Von Lissy Kaufmann · 06.10.2017
Ultraorthodoxe Juden leben meist sehr abgeschottet. Doch für das Programm "Bewirtende Häuser" öffnen ultraorthodoxe Frauen in Jerusalem Touristen und Einheimischen nun die Türen zu ihren Heimen.
Mekor Baruch, ein ultraorthodoxer Stadtteil in Jerusalem. Männer mit langen Bärten, schwarzen Mänteln und großen Hüten gehen die Straße entlang. Frauen schieben Kinderwägen vor sich her. In Jerusalem gehören die Charedim, also die Ultraorthodoxen, zum Stadtbild. Und doch leben sie in einer Parallelwelt, nach strengreligiösen Regeln. Sie gehen in andere, religiöse Schulen, sind vom Militärdienst ausgenommen und leben wie hier in ihren eigenen Stadtteilen. Die Welt der Charedim scheint verschlossen und eigenartig.
Frauen wie Naomi Miller wollen das nun ändern. Naomi öffnet Neugierigen die Türe zu ihrem Heim, einer Wohnung im ersten Stock hier in Mekor Baruch. Naomi will zeigen, dass nicht alle Charedim abgeschottet leben und Familien wie ihre immer ein offenes Haus für alle haben:
"Wir haben an jedem Schabbat ein offenes Haus. Manche kommen nur zum Essen, aber wer will, kann bei uns übernachten und den ganzen Samstag bei uns verbringen. Meistens ist es vorher abgesprochen, wir laden ein oder bekommen eine Anfrage. Aber wir sind offen, manchmal kommen auch hungrige Obdachlose und manchmal auch Leute, die es nicht mehr rechtzeitig aus Jerusalem geschafft haben."
Naomi Miller, 50 Jahre alt, ist eine kleine Frau mit jungem Gesicht und einem freundlichen Lächeln, sie trägt eine schwarze Kopfbedeckung und einen langen Rock, der fast bis zum Boden reicht. Nicht nur zum Schabbat-Mahl zieht sie die zahlreichen aufklappbaren extra Tische und Bänke hervor, die sie neben dem Wandschrank im Wohnzimmer aufbewahrt.
Auch unter der Woche hat sie gut einmal im Monat einheimische und ausländische Gäste, die ihre Welt, die Welt der Charedim, kennenlernen möchten. Naomi kocht dann, zum Beispiel – wie heute – Tscholent, einen Eintopf mit Kartoffeln und Fleisch, der traditionell vor Schabbatbeginn zubereit wird, und dann über Nacht auf einer Heizplatte vor sich hinköchelt.

Einlass in "bewirtende Häuser"

Naomi ist eine von derzeit 15 ultraorthodoxen Frauen in Jerusalem, die im Rahmen des Programms "Batim Meachim" säkulare und nicht-jüdische Gäste in ihre Welt blicken lassen. "Bewirtende Häuser" heißt es übersetzt und Teilnehmer zahlen umgerechnet um die 30 Euro. Das Projekt gehört zu einem Programm der Stadt Jerusalem, das Frauen stärken und gleichzeitig den Tourismus fördern möchte. "Naschim ve sipurim", also "Frauen und Geschichten" heißt das Jerusalemer Programm, bei dem auch arabische Frauen oder Künstlerinnen in Ein Kerem als Gastgeberinnen mitmachen. In den religiösen Stadtvierteln hat ein Gemeindezentrum die Organisation übernommen, erklärt die Leiterin Zivia Birnbaum:
"Eines unserer Programme hilft den Frauen in der Nachbarschaft, es ist eine Bereicherung und gibt ihnen Selbstbewusstsein. Und abgesehen davon ist es auch eine zusätzliche Einnahmequelle."
Ein kleines zusätzliches Einkommen können viele der charedischen Großfamilien gut gebrauchen. Doch es geht noch um etwas anders: das Image der Charedim. Immer wieder wird über sie berichtet. Das klassische Bild, das von ihnen vermittelt wird, ist das einer abgeschotteten Gemeinschaft, die sich züchtig und altertümlich kleidet, in der Frauen mehr als zehn Kinder auf die Welt bringen und Väter den ganzen Tag nur in der Koillel, der Toraschule für Verheiratete, lernen. Mag auch hinter jedem Stereotyp ein Stück Wahrheit stecken, so wollen die Frauen doch lieber ihre eigene Sicht auf die Dinge erklären.
Zivia Birnbaum: "Das Besondere und Einzigartige an unserem Programm ist, dass die Besucher direkt in die Häuser der charedischen Frau gehen und sehen und hören können, wie die Familie lebt und für was sie lebt. Die Medien berichten viel und ich glaube, wir müssen die wahre Seite der Charedim zeigen."

Die orthodoxe Gemeinde ist keine Einheit

Und so erzählt auch Naomi Miller über ihr religiöses Leben, wie sie in Manchester groß geworden ist, dort mit 18 geheiratet hat und nach Israel zog, wo sie 12 Kinder auf die Welt gebracht hat. Die jüngste Tochter ist sechs Jahre alt. Außerdem hat Naomi bereits 13 Enkelkinder. Ihr Mann arbeitet und auch sie selbst ist jetzt, wo die Kinder alt genug sind, wieder berufstätig:
"Seit gut fünf Jahren arbeite ich jetzt schon als Hebamme. Ich habe einen Kurs besucht, als meine jüngste Tochter ein Jahr alt war. Der Beruf nimmt viel Zeit in Anspruch, ich habe durchschnittlich sechs Geburten im Monat."
Es ist eine Herausforderung – vielleicht auch ein Rätsel, wie charedische Frauen das schaffen, mit so vielen Kindern und einem Beruf, nebenher auch noch für neugierige Gäste zu kochen. Und noch einer Herausforderung sieht sich Naomi gegenübergestellt:
"Es gibt in unserer Gemeinschaft Menschen, die nicht verstehen, was wir hier machen und wie wir das machen. Denn die orthodoxe Gemeinschaft ist nicht eine große Einheit, in der jeder gleich denkt. Die Frauen, die im Programm teilnehmen, sowie ihre Ehemänner, sind offener. Aber es gibt immer noch Gruppen, die verschlossener sind, die meinen, dass vielleicht auch die Leute um sie herum so fühlen sollten wie sie."
Diese Herausforderung kennt auch Zivia Birnbaum vom Gemeindezentrum, das auch Touren für Touristen durch die ultraorthodoxen Stadtviertel organisiert. Damit die Gruppen nicht auffallen, müssen sie ihren Kleidungsstil anpassen.
"Wir haben einen besonderen Dresscode. Frauen müssen einen Rock tragen, der bis über die Knie reicht, ihr Shirt darf keinen Ausschnitt haben. Und auch die Schuhe müssen geschlossen sein. Außerdem passen wir auf, dass Frauen und Männer auf der Straße nicht eng nebeneinander hergehen. Deswegen arbeiten wir auf den Touren mit Mikrofon und Kopfhörern, sodass die Teilnehmer den Stadtführer verstehen, aber getrennt auf der Straße laufen können."

Vorträge über Kleidung und Kopfbedeckung

Für Außenstehende scheinen die charedischen Regelungen verwirrend, veraltet und unverständlich. Tzipora Nussbaum, eine der Frauen von Batim Meachim, weiß das. Sie ist Künstlerin und malt in ihrer Freizeit Porträts von jüdischen Gläubigen. Immer wieder wird sie gefragt, was es mit der seltsamen Kleidung auf sich hat. Deshalb hält sie heute im Rahmen des Programms kurze Vorträge. Mit einem brummenden Beamer wirft sie Bilder von Ultraorthodoxen an die Wand.
"Viele kamen neugierig und interessiert auf mich zu und fragten Dinge wie: Worin liegt der Sinn, lange, schwere Kleidung zu tragen, die eigentlich für das kalte Klima in Europa gemacht ist? Warum tragen alle nahezu identische Klamotten? Und warum tragen wir nicht Kleidung, die heute eher akzeptiert ist, anstatt solche, die man früher getragen hat?"
Zipora Nussbaum, eine junge Mutter von sechs Töchtern, trägt selbst eine blaue Kopfbedeckung, ein buntes langärmeliges Shirt und einen langen Rock. Züchtig soll die Kleidung sein, aber es steckt noch mehr dahinter. Es geht um Identität:
"Einerseits geht es darum, uns als Charedim zu identifizieren und aus uns eine einheitliche Gemeinschaft zu machen. Man kann uns Charedim überall auf der Welt erkennen. Andererseits geht es darum, uns vom Rest der Bevölkerung kulturell abzugrenzen. Die Kleidung hilft uns, gemäß unseres religiösen Glaubens zu handeln."
An all diesen Regeln und Traditionen wollen Frauen wie Zipora, Naomi oder Zivia auch nichts ändern. Aber sie wollen sich nicht länger verschließen, sondern den Menschen von außerhalb zeigen, was es mit ihrer Lebenswelt auf sich hat.
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