Chance für Andersdenkende

Von Reinhard Backes |
In ihrem neuen Buch, das am 16. März zur Leipziger Buchmesse erscheint, beschäftigt sich die deutsche Soziologin türkischer Herkunft Necla Kelek mit der Identität türkisch-muslimischer Männer, die innerhalb der islamischen Community verpflichtende Gebote wie Respekt, Ehre und Schande einzuhalten haben. Sie wendet sich darin besonders an diejenigen, die sich innerlich schon von der muslimischen Tradition abgewendet haben und nun ihre Chance suchen.
"Am Anfang steht ein Verdikt: Die Integration sei gescheitert. Statt miteinander lebten Deutsche und Türken nebeneinander. Die Realität habe die Hoffnung widerlegt, die Neubürger aus Anatolien würden irgendwann schon in ihrer neuen Heimat ankommen. Nicht demokratische Überzeugungen, sondern der Islam stifte Identität – in einem "von Männern exekutierten Wertesystem der Familie und der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen."

Deutliche Worte, die Necla Kelek, deutsche Soziologin türkischer Herkunft in ihrem neuen Buch, "Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes", gleich auf den ersten Seiten findet. Sie sind wohl vor allem an ihre Kritiker gerichtet, die der Trägerin des Geschwister-Scholl-Preises von 2005 vorwerfen, unseriös zu arbeiten.

Seitdem ist nicht nur in den Feuilletons überregionaler Zeitungen eine Diskussion entbrannt, die den Verkauf von Keleks erstem Buch, "Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem inneren des türkischen Lebens in Deutschland", weiter beförderte; gleiches dürfte dem neuen, 208 Seiten starken Titel widerfahren, der mit einer Startauflage von 50.000 Exemplaren zur Leipziger Buchmesse am 16. März erscheint. Dieser Erfolg Keleks lässt sich aber nicht allein auf eine Debatte unter Wissenschaftler zurückführen. Die Autorin spricht vielmehr Probleme an, stellt unbequeme Fragen, wehrt sich gegen Denkverbote – und provoziert durch so manche Forderung:

"Warum sind so viele muslimische und türkische Jungen Schulversager? Warum haben viele türkische Jungen ein Gewaltproblem? Warum sitzen überproportional viele Muslime in deutschen Gefängnissen? Sind soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen die Ursachen dafür? Oder der Islam und die archaischen Stammeskulturen einer sich ausbreitenden 'Parallelgesellschaft'?"

Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass die für die islamische Community verpflichtenden Gebote wie Respekt, Ehre und Schande von Männern formuliert werden. Es sind Männer, die ihre Einhaltung kontrollieren, und es sind Männer, die fraglos die Strafe exekutieren, wenn ihre Frauen die 'Ehre' der Familie verletzen oder aus der ihnen zugewiesenen Rolle auszubrechen versuchen. Und es sind Männer, die deshalb immer wieder in Konflikt mit dieser Gesellschaft geraten, die zu 'Tätern' werden."

Necla Kelek beschreibt in ihrem Buch Lebenswege türkisch-muslimischer Jungen und Männer, von Söhnen und Vätern. Sie hat sie in ihren Familien aufgesucht, im Alltag beobachtet und in ihre türkische Heimat begleitet.

Necla Kelek: "Mit diesen Strukturen, diesen Familienstrukturen, die traditionell aus den Dörfern hergebracht wurde, wurden diese Kinder und auch diese Eltern alleingelassen. Man hat sie darin immer nur bestätigt und als kulturelle Vielfalt gefeiert. Jetzt kommt aber raus, dass sie das nicht schaffen, diese alte Kultur hier zu leben und trotzdem hier anzukommen – siehe die Zahlen, was aus den Kindern passiert.

40 Prozent gehen mit einem Hauptschulabschluss raus, 20 Prozent schaffen die Realschule, fünf Prozent gerade Gymnasium. Der Rest: Abgangszeugnis. Das sind doch verheerende Zahlen, wo wir doch in zehn Jahren fast 40 Prozent Migrantenkinder in den Schulen haben werden."

Die Strukturen türkischen Lebens, die die Sozialwissenschaftlerin beschreibt, wirken befremdlich, legt man hiesige Vorstellungen eines frei bestimmten Lebens, von Familiengründung und Partnerwahl zugrunde. Dominierende Person im türkisch-muslimischen Alltag ist der Ehemann und Vater. Er ist nicht nur für das materielle Wohl der Familie verantwortlich, sondern hat über das Leben von Frau und Kindern zu wachen, dass sich an eng gefasste, religiös-kulturell überkommene Grundsätze zu orientieren hat.

"Für die deutsche Gesellschaft ist der muslimische Mann ein »unbekanntes Wesen«. Sozialarbeiter, Lehrer, Polizisten, Richter müssen sich mit ihrem Verhalten oder ihren Taten auseinandersetzen, wobei die Motive oft unerklärlich erscheinen. Die türkischen, vor allem die muslimischen Männer scheinen das größere Integrationshindernis zu sein. Das muss sich ändern."

Necla Kelek: "Also ich finde, es ist sehr wichtig, dass darüber gesprochen wird und gezeigt wird und gesagt wird, was Konsens ist, was wir unter Demokratie verstehen. Und dann heißt es: Einfordern. Es geht mir darum, dass in den Schulen ganz klar gesagt wird: Das ist einen Demokratiewiderspruch, dieses Gesellschaftssystem, diese Familienstruktur. Ihr habt ein Recht auf Selbstbestimmung. Und dieses Selbstbewusstsein muss diese Gesellschaft als Alternative für ihr Leben geben und dass ich das lerne und dann kann ich immer noch entscheiden, wie werde ich ein frommer Moslem und verlasse nie das Haus oder ich pack meinen Rucksack und zieh mal ein bisschen in die Welt."

In ihrem Buch stellt die Autorin auch an die offiziellen Vertreter des Islam konkrete Forderungen: Koranschulen sollten ihre Konzepte und die Inhalte, die sie vermitteln, öffentlich machen. Unterricht und Predigt müssten in deutscher Sprache erfolgen. Die Teilnahme an Veranstaltungen sollten Frauen wie Männern gleichberechtigt offen stehen. Betreiber von Moscheen müssten ihre Finanzen und ihre Satzungen offen legen.

Und: Necla Kelek fordert eine neue Sicht der bundesdeutschen Heimat – von den Hinzugezogenen, die hier Aufnahme fanden, aber auch von denen, die seit vielen Generationen hier leben. Sie ist überzeugt, dass ihr Buch dazu beitragen kann, Einstellungen zu verändern:

Necla Kelek: "Ich habe eine Hoffnung, dass die meisten, die eigentlich schon längst weg sind mit ihrem Verstand, mit ihrem Kopf, die sich aber nicht trauen – also genau die, die das sowieso schon im Kopf vollzogen haben, für die wird das das richtige Buch sein. Die anderen, die davon so überzeugt sind, dass diese Tradition genau das richtige Leben für sie ist, die werden bleiben, können auch bleiben, sollen ihr Leben leben. Aber die anderen müssen ja eine Chance bekommen."