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Pazifikinsel Chiloé
Wo Geisterschiffe kreuzen

Ihre Holzkirchen sind heute Weltkulturerbe: Jahrhunderte lang wollten Missionare die Bevölkerung der chilenischen Pazifikinsel Chiloé bekehren. Doch die Einwohner haben sich ihre alten Mythen bewahrt – und mit Hexerei gegen die Europäer gewehrt.

Von Sophia Boddenberg | 04.01.2018
    Die Kirche San Antonio de Colo ist eine der 16 Holzkirchen auf der Pazifikinsel Chiloé, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden
    Die Kirche San Antonio de Colo ist eine der 16 Holzkirchen auf der Pazifikinsel Chiloé, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden (Deutschlandradio / Sophia Boddenberg)
    "Das ist eine der Weltkulturerbe-Kirchen. Sie ist eine der kleinsten Kirchen, aber trotzdem noch sehr groß für die kleine Gemeinde hier. Früher gab es mehr Gläubige. Heute kommen nur noch fünf oder sechs Leute in die Messe."
    Es riecht nach altem Holz und Weihrauch. Die Kirche San Antonio in der Ortschaft Colo ist eine der 150 Holzkirchen auf der chilenischen Pazifikinsel Chiloé. Und eine der 16, die die UNESCO im Jahr 2000 zum Weltkulturerbe erklärte. Marta Aquintui wurde auf der Insel Chiloé geboren. Früher führte sie Touristen durch die Weltkulturerbe-Kirche aus Buchen- und Zypressenholz.
    Deutsche Missionare bauten Kirchen
    Der Bau der Kirche wurde im 17. Jahrhundert von vorwiegend aus Bayern stammenden Jesuiten begonnen und nach deren Ausweisung von Franziskanern weitergeführt. Dass nur noch so wenige Menschen in die Messe kommen, daran sei die katholische Kirche selbst schuld, sagt Marta Aquintui. Denn heute käme ja keiner mehr zum missionieren:
    "Alle glauben heute an die Hexen. Ich glaube nicht daran, aber mir sind ein paar Zweifel gekommen. Es sind zwei Heiler hierhergekommen, die die Aura sehen können. Und die haben mir gesagt, dass mich jemand verhext hat. Deshalb geht es mir nicht gut."
    Die Hexerei hat eine lange Geschichte auf Chiloé. Fünf Kilometer von der Kirche San Antonio entfernt liegt die Ortschaft Quicaví. Hier ist den Legenden nach das Zentrum der Hexen-Organisation "La Recta Provincia" - "Die Provinz der Aufrechten". Mabel Barrientos ist 38 Jahre alt und wohnt in der Nähe von Quicaví. Sie vermietet mit ihrem Mann Ferienhäuser mit Meerblick und hat ein kleines Restaurant. Ein süßlicher Geruch nach Fleisch und verbranntem Holz liegt in der Luft.
    "Er sollte fliegen. Und er ist geflogen."
    "Vor einiger Zeit gab es hier einen Hexer namens Zapata. Die Bevölkerung hatte ihn angezeigt, weil er Krankheiten und Schaden verbreitete und Menschen wegen ihm starben. Die Polizei nahm ihn fest und sagte ihm, er solle fliegen, um zu zeigen, dass er wirklich ein Hexer ist. Und er ist geflogen. Dann haben sie ihn umgebracht. Als sie ihn beerdigt haben, haben sie einen großen Stein auf sein Grab gelegt, damit er nicht herausfliegen kann. Der Stein liegt dort bis heute."
    Sind mit Hexengeschichten aufgewachsen: Mabel Barrientos und ihr Mann Juan Carlos
    Sind mit Hexengeschichten aufgewachsen: Mabel Barrientos und ihr Mann Juan Carlos (Deutschlandradio / Sophia Boddenberg)
    Die meisten Hexen seien böse, sagt Mabel Barrientos. Als sie und ihr Mann Kinder waren, erzählten die Eltern ihnen die Hexen-Geschichten. Mabel Barrientos Mann Juan Carlos ist 45 Jahre alt und arbeitet als Schreiner.
    "Mein Papa erzählt, dass er ein Geisterschiff mit eigenen Augen gesehen hat. Und auch die Hexen. Deshalb glaube ich auch, dass sie existieren. Sie sind jetzt mehr im Verborgenen, aber es gibt sie."
    "Die Weste ist die Macht"
    Die Hexen müssen vor ihrem Tod ihre Fähigkeiten an jemanden weitergeben, sonst können sie nicht sterben, sagt Juan Carlos.
    "Sie nennen es 'die Weste weitergeben'. Die Weste ist die Macht. Damit können sie fliegen. Und sie wird aus Menschenhaut gemacht. Wenn jemand stirbt, gehen sie auf den Friedhof und reißen ihm die Brust heraus."
    Die Insel Chiloé ist circa 180 Kilometer lang und 50 Kilometer breit. Wälder, grüne Wiesen und felsige Küsten prägen die Landschaft. Kühe, Schafe und Pferde. Die etwa 150.000 Bewohner werden Chiloten genannt und die meisten leben als Selbstversorger von der Landwirtschaft, vom Fischfang und vom Tourismus. Viele stammen vom indigenen Volk der Huilliche ab.
    Armando Bahamonde ist einer der wenigen Historiker der Insel, die die regionale Kultur erforschen. Er ist der Meinung, dass die Hexerei eine Art Verteidigungsmechanismus der Bevölkerung gegenüber den spanischen Eroberern war.
    "Sie haben die Spanier mit Pflanzen vergiftetet"
    "Die Hexen-Organisation von Chiloé war eine indigene Widerstandsbewegung, um die Eroberer zu vertreiben. Die indigenen Familien konnten sich nicht verteidigen, weil sie keine Waffen hatten. Deshalb haben sie die Hexerei erschaffen. Die Hexen-Organisation. Sie haben die Spanier mit Pflanzen vergiftetet und getötet."
    Als die Spanier nach Chiloé kamen, entstand ein religiöser Synkretismus. Die beiden Mythologien – die spanische und die indigene – beeinflussten sich gegenseitig, und so entstanden neben der Hexerei auch neue Mythen und Fabelwesen. Wegen des rauen Klimas und der steilen Küsten war die Insel Chiloé lange von Handelsrouten und Zuwanderung abgeschnitten.
    "Erstaunlicherweise konnten hier auf Chiloé die christliche Religion und die indigene Mythologie gemeinsam fortbestehen. Die Europäer, die Chiloé eroberten, waren abergläubisch. So traf die Mythologie von dort auf die Mythologie hier und bereicherte den Glauben auf Chiloé. Für die, die von außerhalb kommen, sind es Mythen. Aber für uns ist es die Realität. Da wir nirgendwo hingehen können, brauchen wir häufig die Hilfe der Sagengestalten, die uns beschützen."
    Der Trauco lebt im Wald und beschützt ihn
    Es riecht nach Moos und feuchter Erde. Der Wald Aucar ist ein besonderer Wald, denn er liegt auf einem Moor. Hier wohnt Segundo Aquintuy. Er ist ein kleiner Mann um die 40 und hat einen Entdeckungspfad ins Leben gerufen, um Besuchern die Bedeutung des einheimischen Waldes zu erklären. Viel Wald auf Chiloé wurde durch Holzfirmen und Brände zerstört. Eine der bekanntesten Sagengestalten Chiloés ist der Trauco, eine Art kleiner Troll, der im Wald lebt und ihn beschützt.
    "Die Kleidung des Trauco besteht aus Ästen. Wenn der Wald verschwindet, dann werden wir auch keine Geschichten mehr über den Trauco erzählen. Denn der Wald ist sein Zuhause. Deshalb sollten wir Respekt haben gegenüber der Natur und den Waldbewohnern."
    Francisco Carcamo ist Fischer. Er ist 54 Jahre alt, hat einen dunkelgrauen Bart und trägt einen roten Fleece-Pullover. Auf seinem weiß und rot angestrichenen Boot fährt er Besucher zur Insel Mechuque. Chiloé ist ein Archipel, um die Hauptinsel herum liegen etwa 40 kleinere Inseln. Francisco Carcamo erzählt, dass er einmal Meerjungfrauen gesehen hat. Und vielleicht auch das auf Chiloé berühmte Geisterschiff Caleuche.
    Hat möglicherweise das Geisterschiff Caleuche gesehen: der Fischer Francisco Caracamo
    Hat möglicherweise das Geisterschiff Caleuche gesehen: der Fischer Francisco Caracamo (Deutschlandradio / Sophia Boddenberg)
    "Ich habe ein großes Schiff gesehen. Ich weiß nicht, ob es in Richtung Norden oder in Richtung Süden gefahren ist. Und dann plötzlich ist es verschwunden. Ich weiß nicht, ob es das Caleuche war, aber ich habe es gesehen."
    Auf dem Geisterschiff Caleuche sollen Hexen tanzen
    Das Geisterschiff Caleuche gehört zu den wichtigsten Bestandteilen der Mythologie von Chiloé. Viele Chiloten wollen es gesehen haben. Der Sage nach erscheint es als leuchtendes Segelschiff mit fröhlicher Musik und Geräuschen von schweren Ankerketten. Manche sagen auch, dass Hexen auf dem Schiff tanzen.
    Es riecht nach einer Mischung aus geräuchertem Fleisch und Fisch. Nidia Aguilar bereitet auf der Insel Mechuque für 35 Gäste Curanto zu. Ihr Restaurant heißt "La Pincoya", benannt nach einer weiteren Sagengestalt Chiloés, einer Art weiblichem Wassergeist.
    "Den Namen habe ich ausgewählt, weil Pincoya wie die Göttin des Meers ist. Sie sorgt für einen Überfluss an Meeresfrüchten. Außerdem mochte ich den Namen, weil er aus der Mythologie der Insel stammt. Das ist wichtig für mich, weil ich damit aufgewachsen bin. Ich glaube daran."
    Ob es die Sagengestalten wirklich gibt oder nicht – sie machen den Chiloten das Leben unterhaltsamer. Und den Touristen gefallen sie auch.