Cécile Wajsbrot: "Nevermore"

Innere Zwiegespräche mit der verstorbenen Freundin

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Zu sehen ist das Cover des Buches "Nevermore" von Cécile Wajsbrot.
Ein subtil komponierter, sprachlich außergewöhnlich reicher Roman © Deutschlandradio / Wallstein Verlag
Von Sigrid Brinkmann · 11.08.2021
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Auf nächtlichen Streifzügen durch Dresden, in Konzerten oder beim Übersetzen eines Buches von Virginia Woolf sehnt sich die französische Protagonistin in "Nevermore" nach der Wiederbegegnung mit einer verstorbenen Freundin.
Cécile Wajsbrot schreibt knapp, dabei sinnlich. Wenige Sätze reichen, um landschaftliche Räume oder innere Zustände vor unserem inneren Auge aufscheinen zu lassen. Die 67 Jahre alte Autorin publiziert nicht nur Romane und Essays, sie übersetzt auch Literatur aus dem Deutschen und Englischen ins Französische. Wie sehr diese Tätigkeit den sprachlichen Feinsinn schärft, führt sie in "Nevermore" eindrucksvoll vor. Die Protagonistin ihres neuen Romans ist damit beschäftigt, Virginia Woolfs 1927 erschienenes Buch "To the Lighthouse" ins Französische zu übertragen.

Wahrnehmung feinster Nuancen

Wir schauen der Protagonistin gewissermaßen über die Schulter, wenn sie Varianten der Übersetzung eines Satzes ausprobiert und sich in den Kosmos des Woolfschen Textes und damit auch in komplizierte Familienverhältnisse und eine ferne Zeit vertieft. Es geht in "Nevermore" um das Wahrnehmen kleinster Nuancen und das Aufspüren von Verbindungen.
Das verlassene, von der Natur langsam überwucherte Haus in Virginia Woolfs Roman verweist auf die renaturierte Zone in Tschernobyl und den High Line Park in Manhattan. Dort entstand zwischen 2009 und 2019 auf stillgelegten Hochbahngleisen über ehemaligen Schlachthöfen, Industriebauten und Marktplätzen eine grüne Oase, die den Menschen "Zeit schenkt".
Um ungestört arbeiten zu können, hat Wajsbrots Protagonistin ein kleines Zimmer in Dresden bezogen. Sie glaubt, die "einst vom Krieg verwüstete Stadt" sei der richtige Ort, um über "die Verwüstungen der Zeit" nachzudenken, von denen Woolfs Text erzählt. Langsam aber enthüllt sich der wahre Grund: Sie hat Paris verlassen, um in der Fremde eine verstorbene Freundin zu beweinen.

Anspielung auf Poe-Gedicht

Einen Augenblick lang erliegt die Übersetzerin der Illusion, eine im Konzertsaal neben ihr sitzende Person trage die Züge der verlorenen Freundin. "Etwas rief nach ihr – im Dunkel des Saals, in den Bewegungen der sich einrichtenden Musiker". Jetzt erschließt sich der Romantitel. Er ist eine Anspielung auf Edgar Allan Poes berühmtes Gedicht "The Raven". Was immer der um seine verstorbene Geliebte Trauernde den ins Zimmer geflogenen Raben fragt, die gekrächzte Antwort bleibt stets "Nevermore".
"Was ist privat, persönlich an dem Verlust eines Menschen, was ist kollektiv? Was kann man teilen? Sollen die Erinnerungen im Stillen bewahrt werden oder müssen sie, können sie erzählt werden?"
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, taucht Wajsbrot auch in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Angelegt hat sie ihren Roman wie ein großes Puzzle, dessen Teile sich zu einem großen Ganzen fügen wie eine musikalische Komposition mit Vorspiel Zwischenspielen und einer Coda.

Poetisches Buch

"Wegfahren, heimkehren, zurückkommen", notiert die Protagonistin, "an Wörtern fehlte es nicht, aber ich wusste nicht, was sie beinhalteten". Am Ende dieses poetischen Buches, das so spielend leicht Handelsstränge miteinander verschränkt und die Lesenden an reale und fiktive Orte mitnimmt, erkennt die Übersetzerin, dass sie in Paris zu Hause ist.
Das innere Zwiegespräch, das sie mit der schmerzlich vermissten Pariser Freundin führt, berührt zutiefst – wie überhaupt das ganze Buch immerzu all unsere Sinne anspricht. "Nevermore" ist ein subtil komponierter, sprachlich außergewöhnlich reicher Roman. Die in Frankreich lebende Schriftstellerin Anne Weber hat ihn ins Deutsche übersetzt. Auch das ist ein Glücksfall.

Cécile Wajsbrot: "Nevermore"
Übersetzt von Anne Weber
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
229 Seiten, 20 Euro

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